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»Soziale Systeme sollten immer in sich gerecht sein«

Im Gespräch: NRW-Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann

Düsseldorf (WB). Karl-Josef Laumann ist das soziale Gewissen der Union und arbeitet an den schmerzhaftesten Reformen des Sozialstaates mit: Reinhard Brockmann sprach mit dem NRW-Arbeits- und Sozialminister.

Sieben Millionen Menschen beziehen Hartz IV, ein Armutszeugnis? Laumann: Hartz IV ist zunächst eine Grundsicherung. Hinzu kommt: Wenn Menschen, die viele Jahre Beiträge gezahlt haben, im gleichen System sind wie solche, die nie gearbeitet haben, ist das ein emotionales Problem für die Leistungsträger. Auf der anderen Seite erreichen mehrköpfige Bedarfsgemeinschaften eine Grundsicherung, die im einfachen Lohnbereich durch Arbeit manchmal nur schwer zu erzielen ist.

Die CDU-Ministerpräsidenten wollen über die vereinbarten Schritte bei Hartz IV hinaus im Herbst nachbessern. Sie also auch? ÊLaumann: Wenn man eine Arbeitslosenversicherung aus dem Geist der christlichen Soziallehre heraus weiterentwickeln will, muss ein Grundsatz gelten: Wer lange eingezahlt hat, muss länger gestützt werden als der, der nur kurze Zeit versichert war. Das haben wir derzeit nicht.

Die Staffelung sollte wieder eingeführt werden? Laumann:Ê Die Staffelung ist aufgehoben worden mit dem Hinweis, es handle sich um eine Risikoversicherung. Aber: Der Gerechtigkeitsgedanke ist tief im Denken der Arbeitnehmer verwurzelt. Die Politik ist gut beraten, dieses ein Stück weit wieder zu bedenken, auch damit ihre Akzeptanz wieder steigt. Natürlich muss man die Regelung so raffiniert ausgestalten, dass sie nicht zu einem neuen Vorruhestands-Modell führt.

Die Union will über die jüngsten Verschärfungen hinausgehen. Was läuft unrund?Laumann: Vor allem hat man die Verwaltung von Hartz IV mancherorts nicht gut im Griff. Dabei gibt es Arbeitsgemeinschaften (ARGEN), die sehr gut arbeiten, ausdrücklich möchte ich da die Stadt Bielefeld nennen. Aber: Ein Rechtskonstrukt, in dem Kommunen und Bund zusammenarbeiten sollen, birgt große Risiken. Es sollte zu einer generellen Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik kommen. Man kann dann über die Länder wieder mehr steuern. Derzeit sind die Länder so gut wie außen vor. Das ist nicht gut. Ich glaube, dass zentralistische Steuerung in einem so großen Land wie Deutschland nicht funktionieren kann.

Wieso werden die Gesundheitsreformer am Ende, wenn alle Details heraus sind, keine Freunde mehr haben? Laumann: In einem System, in dem wir eine Generalumstellung vornehmen müssen, gibt es auch Veränderungen von Verteilungswirkungen. Wenn man Spitzenmedizin für alle zusagt, bedeutet das, dass die Menschen mittelfristig mehr aus dem verfügbaren Einkommen einzahlen müssen. In der jetzigen Situation, in der die Menschen weniger verdienen und höhere Steuern zahlen, ist so eine Botschaft zwar wahr, aber weniger populär. Gleichzeitig ist ein System mit mehr Wettbewerb für die, die bisher nicht dem Wettbewerb ausgesetzt waren, auch nicht unbedingt schön.

Müssten bei einem Fonds-Modell, über das auch außerhalb der Koalitions-Arbeitsgruppe heftig diskutiert wird,Ê möglicherweise sogar AOK-Versicherte zuzahlen? Laumann: Das hängt davon ab, wie leistungsfähig die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind. Das kann man jetzt aber noch gar nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh. Wir werden die politischen Eckpunkte der Reform bis zum Sommer fertig stellen, damit das Ministerium in der Sommerpause in Ruhe die Gesetzesentwürfe schreiben kann.

Auch ohne EinzelheitenÊÊ zu kennen spüren die Menschen: Jede Deckelung des Arbeitgeberanteils bedeutet Mehrbelastung für die andere Seite? Laumann: So ist es. Das kann man drehen und wenden, wie man will. Ich glaube allerdings schon, dass es richtig ist, die zukünftige Entwicklung des Systems vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln. Wenn jeder eine Prämie zahlen muss, stellt sich nicht mehr die Frage, aus welcher Art von Einkommen sie bezahlt wird.

SPD-Chef Kurt Beck hat alle Bezieher von Sozialleistungen unter Missbrauchsverdacht gestellt. ÊLaumann: Als Arbeitsminister in NRW bekomme ich jeden Tag einen ganzen Packen Briefe, in dem mir Menschen von 200 bis 300 erfolglosen Bewerbungen berichten. Und wenn ich junge Leute sehe, die nach 70 bis 100 Anfragen ohne Lehrstelle bleiben, bin ich mit diesem Generalverdacht sehr vorsichtig. Deshalb bin ich auch gegen eine Absenkung des ALG-II-Satzes unter 345 Euro.
Natürlich muss man auch den Missbrauch bekämpfen. Dafür braucht man eine klasse Verwaltung. Es darf nicht sechs Monate bis zum ersten Beschäftigungsangebot dauern. Ich finde es richtig, dass es eine Umkehr der Beweislast bei den eheähnlichen Gemeinschaften gibt und dass auf die Ablehnung zumutbarer Arbeit restriktive Sanktionen folgen. Aber Voraussetzung bleibt, dass den Leuten zuvor ein konkretes Beschäftigungsangebot gemacht worden ist.

BischofÊ Marx aus Trier klagt, die Politik habe sich seit 20 Jahren mit Millionen Arbeitslosen abgefunden. Akzeptieren Sie diese Fundamentalkritik? Laumann: Das ist ein wenig ungerecht. Die Politik hat das ernsthafte Bemühen, die Beschäftigungslage im Lande zu verbessern. Aber angesichts von knapp fünf Millionen Arbeitslosen und den strukturellen Problemen auf dem Arbeitsmarkt werden wir auf absehbare Zeit realistisch keine Vollbeschäftigung erreichen.

Das müsste die Stunde der Katholischen Soziallehre sein. Laumann: Das große Problem ist, dass die Lehre von Oskar von Nell-Breuning in ihrer Anwendung auf die heutige Zeit nicht weiter entwickelt worden ist. Die katholische Soziallehre ist weiterhin eine gute Grundlage, um mit diesen Problemen vernünftig umzugehen. Leider haben die christlich-sozialen Verbände hinsichtlich ihrer Mitgliederentwicklung schon bessere Zeiten erlebt.

Die Neoliberalen frohlocken, wenn Katholische Arbeitnehmerbewegung, Kolping und Sozialausschüsse nicht mehr gefragt sind. Laumann: Die KAB ist ein Sonderproblem, weil sie in ihrer Bundesführung keinen klaren Standpunkt mehr einnimmt. Das ist bei Kolping anders und die CDA ist keineswegs einflusslos. Wir stellen den Vorsitzenden des Arbeits- und Sozialausschusses im Bundestag, den Sprecher für den Bereich und im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW den Arbeitsminister. Das war schon mal schlechter. Das Problem ist, dass die Neoliberalen hochgeschrieben worden sind. Das Bundestagswahlergebnis hat deutlich gezeigt, dass die Bevölkerung anders darüber denkt.

Artikel vom 10.06.2006