10.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Letzten Willen einer Mutter nicht erfüllt

Dirk M. kämpfte vergeblich gegen das Jugendamt um die Vormundschaft für seine Nichte

Von Christian Althoff
Bünde (WB). Auf dem Sterbebett hatte Dagmar M. (36) ihrem Bruder das Versprechen abgenommen, dass er ihre Tochter Silke (4) zu sich nehmen würde. Zehn Monate hat Dirk M. (39) nun gegen das Jugendamt Bünde prozessiert, um diesen letzten Wunsch seiner Schwester zu erfüllen - vergeblich. »Als Onkel hast du keine Chance«, sagt er verbittert.

Dagmar M. führte mit ihrer Tochter und ihrem Lebensgefährten ein zurückgezogenes Leben in Bünde (Kreis Herford). Die beiden Erwachsenen hatte eine Drogenkarriere hinter sich, Dagmar M. bekam zum Schluss Methadon. Tochter Silke stammte aus einer Beziehung mit einem schwarzafrikanischen Asylbewerber, der Dagmar M. aber schon während der Schwangerschaft verlassen hatte. »Silke hat ihren leiblichen Vater so gut wie nie gesehen«, sagt ihr Onkel Dirk M., »Er hat meine Schwester geschlagen, hat nie Unterhalt für das Mädchen gezahlt und ist wegen Urkundenfälschung und Sozialhilfebetrugs vorbestraft.«
Im Frühjahr 2005 war bei Dagmar M. Unterleibskrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden. Ärzte der Uniklinik Münster stellten fest, dass der jungen Frau nicht mehr geholfen werden konnte. Dagmar M. wurde nach Bünde auf die Palliativ-Station des Lukas-Krankenhauses verlegt, wo sie ihrem Tod entgegensah. Dirk M.: »Dort wurde sie wiederholt von einer Mitarbeiterin des Jugendamtes aufgesucht, die meiner Schwester erzählte, man habe ein Arztehepaar an der Hand, das Silke adoptieren wolle. Doch Dagmar wollte ihre Tochter nicht weggeben. Weil sie aber auch wusste, dass ihr Lebensgefährte sich nicht um Silke kümmern konnte, bat sie mich inständig, dass ich Silke zu mir nehme. Sie hatte Angst, der leibliche Vater könne das Mädchen nach Afrika bringen und beschneiden lassen«, erzählt der Bauarbeiter, der mit seiner Lebensgefährtin Nicole T. (29) im niedersächsischen Peine lebt. Schon vor dem Tod seiner Schwester hatte Dirk M. deshalb das Jugendamt Peine eingeschaltet: »Die haben unsere persönlichen Verhältnisse überprüft und hatten keine Einwände«, erzählt der gebürtige Bünder.
Am 7. Mai 2005 starb Dagmar M. Am Tag darauf nahm Dirk M. seine Nichte bei sich in Peine auf, wo der Handwerker und seine Lebensgefährtin in einem denkmalgeschützten Haus mit Garten auf 165 Quadratmetern wohnen.
Zwei Tage später ließ sich das Jugendamt Bünde vom Amtsgericht die Vormundschaft übertragen mit dem Hinweis, die Versorgung des Mädchens sei »nicht sichergestellt«. Dagegen zog Dirk M. vors Landgericht Bielefeld, das den amtsrichterlichen Beschluss aufhob und anordnete, dass das Kind bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung bei seinem Onkel bleiben dürfte. Dirk M. beantragte die Vormundschaft für seine Nichte, und nun wollte der biologische Vater plötzlich das elterliche Sorgerecht. Er wolle seiner Tochter sehr viel Liebe geben und gut für sie sorgen, sagte er.
»Als Silke bei uns ankam, war sie trotz ihrer vier Jahre noch nicht sauber«, erzählt Nicole T. »Sie konnte nicht selbständig essen und wusste nicht, wie man sich bei Tisch benimmt.« Sie hätten das Mädchen in einer Spezialklinik untersuchen lassen, wo der Entwicklungsstand eines zweijährigen Kindes diagnostiziert worden sei. »Wir haben uns deshalb sehr viel Zeit genommen, um meiner Nichte die vielen Dinge des Alltags beizubringen. Silke war wahnsinnig stolz, als sie endlich Fahrradfahren konnte«, erinnert sich Dirk M. »Wir haben sie auch im Kindergarten angemeldet, denn sie hatte früher kaum Kontakt zu Gleichaltrigen.«
Das Jugendamt Peine befürwortete, dass Silke bei ihrem Onkel bleiben sollte, während das Jugendamt Bünde dem leiblichen Vater den Vorzug gab. Ende 2005 entschied dann das Amtsgericht Bünde, dass das Kind zu seinem biologischen Vater solle. Eine vom Gericht bestellte Diplompsychologin war zu dem Schluss gekommen, dass das Mädchen weder zu seinem Onkel noch zu seinem leiblichen Vater eine »stabile Bindung« habe. Es diene aber dem Wohl des Kindes, wenn es zu seinem biologischen Vater komme, weil der »in Zukunft eine wichtige Identifikationsfigur« darstellen werde.
Zwar hatte der von Dirk M. eingeschaltete Gutachter Prof. Dr. Wolfgang Klenner aus Oerlinghausen der Expertise der Diplompsychologin schwere Qualitätsmängel vorgeworfen, »aber das interessierte niemanden«, wie sich Dirk M. erinnert. »Der Familienrichter fragte mich sogar: Warum wollen Sie sich eigentlich so einen Klotz ans Bein binden? Niemand verstand, dass es um den letzten Willen meiner Schwester ging!«
Gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes legte Dirk M. Beschwerde beim OLG in Hamm ein, die aber scheiterte. »Man erklärte mir, als Onkel hätte kein Beschwerderecht.« Am 5. März übergaben Dirk M. und Nicole T. schweren Herzens das Mädchen an seinen Vater. »Damit war das passiert, was meine Schwester nicht wollte«, sagt der 39-Jährige verbittert.
Ingrid Wolff, die Leiterin des Jugendamtes Bünde, erklärte, es gebe zu diesem Fall »viel zu sagen«, sie dürfe sich aber aus Datenschutzgründen nicht äußern. Die gefundene Lösung sei für das Kind »sicherlich die beste«.
Rechtsanwältin Ingeborg Eisele aus Hannover, die Silkes Onkel vertreten hatte, sagte, man könne der sterbenden Mutter keinen Vorwurf machen, aber bei rechtzeitigem Einschalten eines Anwaltes sei möglicherweise ein anderer Ausgang denkbar gewesen. »Denn die Vorstellung vieler juristischer Laien, dass Gerichte und Behörden auf den letzten Wunsch eines Sterbenden Rücksicht nehmen -Êsie ist leider ein Irrglaube.«

Artikel vom 10.06.2006