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Amtsübernahme in einer schwierigen Zeit

Neue Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch

Von Esteban Engel
Berlin (dpa). Nur wenige Stunden nach Paul Spiegels Tod am 30. April hatten die Mutmaßungen begonnen. Lautstark wurde darüber spekuliert, wer an die Spitze des Zentralrats der Juden in Deutschland rücken würde. Mit der Wahl von Charlotte Knobloch zur Präsidentin hat der Zentralrat gestern der Ungewissheit ein Ende gesetzt. Die 73-Jährige übernimmt das Amt in schwieriger Zeit.

Turnusmäßig hätte der neue Präsident im November gewählt werden sollen. Doch der Zentralrat wollte angesichts der Probleme, vor denen die 110 000 Juden in Deutschland stehen, schnell handeln.
Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, genießt hohes Ansehen und großen Respekt. Sie ist vermutlich die letzte Zentralratspräsidentin aus der Generation der Holocaust-Überlebenden und schöpft auch aus ihrem Schicksal die Kraft für eine klare Sprache in der Öffentlichkeit. Doch ob sie eine »moralische Autorität« wird, wie Politiker und Medien bisher die Zentralratsvorsitzenden tituliert haben, wird die Zeit erweisen.
Neben Knobloch wurde im Vorfeld auch der Name von Salomon Korn genannt. Der 63-jährige Vorsitzende der Gemeinde in Frankfurt/Main galt vielen als Wunschkandidat für Spiegels Nachfolge. Als intellektueller Kopf hat der 1943 in Polen geborene Architekt auch immer wieder den inneren Konflikt jener nachgeborenen Juden artikuliert, die sich trotz Holocaust entschieden, in Deutschland zu leben.
Die Position des Zentralratspräsidenten hat Korn als schwierigstes Ehrenamt in Deutschland bezeichnet. Korn und Knobloch gelten als gefährdet und werden ständig von Leibwächtern begleitet. Die erste Frau an der Zentralrats-Spitze steht vor Aufgaben, die ihren ganzen Einsatz erfordern werden.
Vor allem die Integration der aus Osteuropa stammenden Juden, die in den Jahren der Verfolgung und Entrechtung in der Sowjetunion ihrer religiösen Identität beraubt wurden, stellt die Gemeinden vor enorme Belastungsproben. Die Zugewanderten haben die Hoffnung auf ein erstarktes jüdisches Leben im Land des Holocaust belebt. Vielerorts fehlen aber Geld und russischsprachige Mitarbeiter, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu stärken.
Die hohe Arbeitslosigkeit unter den Zugewanderten erfordert von den 102 Gemeinden große Opfer, um eine soziale Absicherung der oft hoch qualifizierten »Russen« zu gewährleisten. Zu den Fliehkräften gehörte bisher auch der Konflikt mit dem liberalen Judentum. Fast von der Öffentlichkeit unbemerkt, wurden die liberalen Gemeinden unter dem Dach des Zentralrats integriert und so eine Spaltung verhindert.
Auch international steht Knobloch vor schwierigen Aufgaben. Immer wieder werden aus jüdischen Gemeinden und aus Israel Stimmen laut, die einen Verbleib der Juden in Deutschland nicht verstehen können. Knobloch, die die Nazi-Herrschaft versteckt auf einem bayerischen Bauernhof überlebte, wird dabei möglicherweise auch deutlich machen, dass Deutschlands Juden nicht mehr nur auf »gepackten Koffern« sitzen.

Artikel vom 08.06.2006