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Wenn hochbegabte Kinder
zu wenig gefördert werden

Außergewöhnliche Fähigkeiten können Problem sein

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Leonardo war kaum 14 Tage in der Schule, als seine Religionslehrerin seine Mutter ansprach: Wenn ihr Sohn sich nicht bald eingliedere, werde sie dafür sorgen, dass er in die Sonderschule komme. Die Mutter war verschreckt und reagierte sofort. Weil sie fürchtete, ihr Kind sei überfordert, ließ sie es testen. Das Ergebnis: Leonardo ist hochbegabt.

Doch darüber kann sich die Familie nicht so recht freuen: Die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Kindes werden als Belastung empfunden - vor allem in der Schule. »Das Problem ist, dass Hochbegabung in der Lehrerausbildung kein Thema ist. Viele wissen nicht, was auf sie zukommt«, sagt Wilfried Schäffersmann, zweiter Vorsitzender im Regionalverband OWL der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind, der 200 Familien betreut.
Hochbegabte Kinder müssen gefordert und gefördert werden, betont Schäffersmann. Chronische Unterforderung hingegen führt oft zum Scheitern in der Schule: »Die Kinder langweilen sich und schalten entweder ab, oder aber sie stören. Dann landen sie nicht selten in einer Spirale: Sie werden zum Problemfall, die Eltern werden einbestellt, die Schulkonferenz tagt, die Kinder verweigern sich - und erbringen irgendwann schlechte Leistungen.«
Nötig sei eine besondere Förderung. »Dass die schwachen Schüler unterstützt werden, ist akzeptiert. Die Starken, meint man, können theoretisch alles von alleine; um die muss man sich nicht kümmern.« Falsch gedacht: Auch wenn Hochbegabte - etwa zwei Prozent der Kinder und Jugendlichen - ihren Altersgenossen oft auf mehreren Gebieten voraus sind, benötigen sie doch Anleitung.
Pech aber haben die Kinder und ihre Eltern, deren Schule besondere Begabung als lästig empfindet. Leonardo ist mittlerweile fast verstummt; er mag daheim nichts von der Schule erzählen und möchte am liebsten keine Hausaufgaben machen. Nach zwei Gutachten, die die Eltern selbst bezahlt haben, und nach anderthalb Jahren Diskussion hat er endlich einen Förderplan für Mathematik bekommen. Außerdem bezahlt seine Mutter einmal wöchentlich ein Verhaltenstraining: Leonardo soll lernen, im Unterricht stillzusitzen, selbst wenn er gestellte Aufgaben lange vor der Zeit erledigt hat. Das ist viel verlangt von einem Zweitklässler, dessen Geist nur eines will: Aufgaben zum Denken.
Die 39-jährige Mutter möchte ihren Namen nicht nennen, weil sie Nachteile für ihren Sohn fürchtet. Mit der Schulleiterin hatte sie schon zu viele Diskussionen; immer wieder bat sie darum, ihren Sohn doch einfach mit Zusatzaufgaben zu beschäftigen oder probehalber am Matheunterricht der höheren Klasse teilnehmen zu lassen. Aber sie biss auf Granit.
Das kann auch eine andere betroffene Mutter bestätigen, deren Sohn von seiner Lehrerin regelrecht gemobbt wurde. Sie schulte das Kind um, und siehe da: Es blühte wieder auf.
Damit ihr Sohn in der Schule nicht ständig aneckt, sondern sich ruhig verhält, hat Justins Mutter ihrem Achtjährigen schon homöopathische Mittel verabreicht. Außerhalb der Schule, beim Sport und im Musikunterricht (probate Mittel, um die Kinder außerschulisch zu fördern), ist ihr Sohn, der bereits eine Klasse übersprungen hat, nie aufgefallen. Nur in der Schule. »Glücklicherweise ist Justin sehr selbstbewusst«, sagt seine Mutter. Dennoch erlebt er sich zunehmend als Problemkind. »Ich will diese Krankheit nicht mehr«, hat er seiner Mutter gesagt. Auf ihre Nachfrage, welche Krankheit er meine, kam die Antwort: »Na, diese Hochbegabung.«
Dass ihre Kinder in der Schule nicht immer so gefördert werden, wie es nötig und möglich wäre, haben Justins und Leonardos Mütter längst akzeptiert. Sonderregeln für ihre Söhne erwarten sie ebenfalls nicht. Sie wünschen sich aber, dass sich die Kinder im Unterricht, wenn sie ihre Aufgaben erledigt haben, mit anderem beschäftigen dürfen. »Vor allem aber geht es uns um die Akzeptanz unserer Kinder.«

Artikel vom 20.07.2006