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Ohne Kult und eigene Heilige kommt auch die moderne Welt nicht aus

Nanu, Fußball scheinbar auf dem Weg zu einer Religion
Von Stefan Rehder


Auf den ersten Blick scheinen Fußball und Religion kaum Gemeinsamkeiten zu besitzen. Zu unterschiedlich nehmen sich Stadion und Kirche, Fan-Gesänge und Gregorianische Choräle aus, erst recht das »Wunder von Bern« und die Wunder von Lourdes. Erst wer ein wenig genauer hinschaut, vermag eine ganze Reihe erstaunlicher Parallelen zu entdecken.

»In regelrechten Prozessionen pilgern Woche für Woche zu Hunderttausenden die »Gläubigen« in die Fußballtempel des Landes. «
In regelrechten Prozessionen pilgern Woche für Woche zu Hunderttausenden die »Gläubigen« in die Fußballtempel des Landes. Für die Anhänger der »schönsten Nebensache der Welt« ist der Spieltag der Festtag. In jeweiliger Fan-Kluft festlich gewandet, Fahnen schwenkend und der Gemeinschaft bekannte Lieder singend streben sie den Stadien zu und erinnern so doch sehr an die Pilger, die in der Wallfahrtssaison zu Marienheiligtümern wie Altötting oder Kevelaer strömen.

Zwar trifft es immer noch zu, dass die beiden christlichen Kirchen sonntags mehr Menschen mobilisieren als der Deutsche Fußball-Bund (DFB) am Nachmittag zuvor. Doch das Großereignis des sich über vier Wochen erstreckenden Weltmeisterschaftsfests im eigenen Land übertrifft an Masse der Fußballfrommen selbst den XX. Weltjugendtag im vergangenen Jahr mit seiner Million begeisterter Jugendlicher, die eine Woche lang die rheinischen Städte Köln, Düsseldorf und Bonn übervölkerte.

Überall auf der Welt bemalen, wie in afrikanischen Religionen üblich, die Fußballgläubigen ihre Gesichter, allerdings natürlich in den Farben ihres Vereins oder der jeweiligen Nation. Es gibt berühmte Marienwallfahrtsorte wie Fatima (Portugal), Tschenstochau (Polen) oder Guadalupe (Mexiko) mit 20 Millionen Besuchern im Jahr. Und es gibt die legendären Fußball-Arenen wie Nou Camp (FC Barcelona), das Giuseppe Meazza Stadion (Inter Mailand) oder Old Trafford (Manchester United). Ihrem »heiligen Rasen« bringen die Fußballfans eine ähnliche Ehrfurcht entgegen wie etwa Katholiken jenen »heiligen Bezirken«. Zwar gibt es dort - anders als in den Fußballstadien - keine Bandenwerbung für Bier und Baumärkte. Vor den heiligen Stätten werden aber hier wie dort die Pilger von emsigen Händlern zur Erinnerungskultur angehalten. Nur heißen die Devotionalien-Läden bei der WM Fan-Shops. Sie erfüllen gleichermaßen schnell und umfassend alle Wünsche, die am erhabenen Ort das Herz eines Verehrers durchströmen könnten, selbst solche, die es gar nicht hatte. So wie hier Kreuze, Rosenkränze und Medaillen in allen möglichen Variationen werden dort Club-Fahnen, -Wimpel, -Schals und Maskottchen feilgeboten. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Selbst die Pannini-Sammelalben, die regelmäßig zu Welt- und Europameisterschaften auf den Markt kommen, dürften Assoziationen wecken zu den Gebet- und Gesangsbüchern, in die manch fromme Gottesdienstbesucher zahlreiche Heiligenbildchen oder Totenzettel einlegen.

Der Fan-Altar im Zimmer unseres Sohnes weist jedenfalls nicht wenige signifikante Ähnlichkeiten zu dem Marienaltar auf, den seine Mutter in den Marienmonaten Mai und Oktober auf einer Kommode im Wohnzimmer zu errichten pflegt. Hier steht eine kleine Marienstatur, dort hängt stattdessen ein riesengroßes Poster von Michael Ballack. Und statt der frischen Blumen um die kleine Statue hier, dort die neuesten Wimpel, auf denen sich auch die jüngst erworbenen Titel des Helden und seines Teams notiert finden. Einen gravierenden Unterschied zwischen der Verehrung des Fußballs und der Liebe zu Gott gibt es freilich bei uns schon: Noch niemand hat sich Bettwäsche etwa mit dem Wappen des Papstes gewünscht. Mit dem Emblem des deutschen Rekordmeisters aber schon.

»Parallelen weist aber nicht nur
das Gebaren
der Gläubigen, sondern auch das Verhalten der den jeweiligen Kult leitenden Akteure auf.«
Parallelen weist aber nicht nur das Gebaren der Gläubigen, sondern auch das Verhalten der den jeweiligen Kult leitenden Akteure auf. Augenfällig ist die Amtskleidung des Schiedsrichters in dasselbe Schwarz getaucht, das auch der Pastor trägt, wenn er die Abendmahlfeier leitet. Eher katholisch wird es, wenn sich auf dem Platz ein Foul zuträgt und der Schiedsrichter im Falle eines schweren Vergehens den Sünder entsprechend dem Regelwerk des DFB exkommuniziert. Die Rote Karte schließt ihn ab sofort aus der Spielgemeinschaft aus. Die Spieler leisten ihre Buße auch vollständig ab. Meist ohne Widerspruch. Nebenbei bemerkt: Beim Fußball herrscht da eine offenkundig weitaus höhere Disziplin als bei Theologen. Denen drohen allerdings auch keine Geldstrafen.

Kult gilt neben der Verehrung der Spieler auch dem Trainer. Giovanni Trappatoni und Ottmar Hitzfeld wird schon zu Lebzeiten der Ehrentitel »Fußballlehrer« verliehen. Auf den Rang des »Kirchenlehrers« hingegen mussten selbst Ausnahmegestalten wie der heilige Thomas von Aquin (1224-1274) erst lange warten. Das Credo der Fans »Es gibt nur ein Rudi Völler« mag grammatikalisch zu wünschen lassen, ist deshalb aber kaum weniger sympathisch. Ein weiterer Fußballlehrer erlebte sogar die Verklärung seines bürgerlichen Namens. Otto Rehagel stieg, mit Griechenland Europameister, als »Rehakles« in den Olymp auf - in traute Runde vermutlich mit »Fußballgöttern« wie Jürgen Kohler und Toni Turek. »Titan« Oliver Kahn sei, heißt es, auch schon dort.

Der Fußball bleibt derweil auf dem Platz. Und hier wird bei Spielende der Friedensgruß ausgetauscht: Tausch der Trikots. Dann werden dem jubelnden Volk die Pokale präsentiert. Schon immer wurden ja dem gläubigen Volk die Reliquien der ihm vertrauten Heiligen zur Verehrung gezeigt. Und da in keiner Religion die Mission fehlen darf, steht schon jetzt fest, dass sich im Verlauf der WM auch bislang Ungläubige zum Fußball bekehren werden.

Wer noch Zweifel daran hegt, dass Fußball eine Religion ist oder auf dem Weg dazu, mag sich an den Spielern erbauen, die sich bekreuzigen, wenn sie den Rasen betreten oder wieder verlassen, die nach einer vergebenen Torchance die Augen flehendlich himmelwärts richten und vor dem Gang zum Elfmeterpunkt Stoßgebete verrichten.

Artikel vom 10.06.2006