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Auf dem Spielfeld steht die deutsche Gesellschaft auf dem Prüfstand

Von einem neuen »Wir-Gefühl« und typisch deutschen Tugenden
Von Horst Hennert


Die Diskussion um den Stellenwert des deutschen Fußballs hält bis hinein ins fußballerische Großereignis in Deutschland unvermindert an. Nur die Älteren erinnern sich noch aus persönlichem Erleben an die »Helden von Bern«, die Deutschland 1954 sein nationales Selbstwertgefühl zurückgaben. An 1974 können sich viele erinnern, als wir nach einer als schandbar eingestuften Niederlage gegen die damalige DDR im Endspiel gegen Holland, dem eigentlichen Favoriten, schließlich den Weltmeistertitel im eigenen Land behalten konnten. Oder an Italien 1990, wo »der Kaiser« nach dem Endspiel gegen den Favoriten Argentinien als Trainer die Trophäe in den Himmel heben konnte. Und selbst die letzte Weltmeisterschaft weckt gute Gefühle, da sich die Fußballarbeiter nur den Fußballzauberern vom Zuckerhut beugen mussten.

»Alle vier Jahre tritt, mehr noch als bei olympischen Spielen, die enge Beziehung zwischen Fußball
und Gesellschaft ins Rampenlicht.«
Alle vier Jahre tritt, mehr noch als bei olympischen Spielen, die enge Beziehung zwischen Fußball und Gesellschaft ins Rampenlicht, zwischen Nationalteam und dem sonst kaum noch gebrauchten Wort Nation. Ja mehr noch: die nationale Ehre steht auf dem Spiel, wobei immer so etwas mitschwingt wie »die besten im Fußball können auch ansonsten nicht so schlecht sein«.

Bei wichtigen Fußballspielen zeigen sich stets hohe Regierungsvertreter, die ein wenig vom Glanz eines Sieges auch auf sich und ihre Politik lenken möchten. Und in der Tat werfen nationale Fußballsiege auch immer einen Bonus für die Regierenden ab. Denn einen Zusammenhang zwischen sportlicher Leistung und gesellschaftlicher Befindlichkeit stellt fast jeder, wenn auch unbewusst, her.

Nun hat sich die Lage der deutschen Gesellschaft seit der Wiedervereinigungseuphorie in vielem verändert. Das ohnehin immer kränkelnde deutsche Selbstwertgefühl ist durch ständig wachsende Arbeitslosenzahlen, als Bildungs- und Nachkommensschlusslicht und jetzt auch noch als Zukunftsangstmacher für Rentner auf einem Tiefpunkt gelandet. Und über all diese Übel möchte man sich gerne von der Hoffnung hinwegtragen lassen, dass ein erneuter Titelgewinn all das ändern kann und uns in bessere Zeiten führt. Kann der Fußball jene Woge der Begeisterung auslösen, die endlich die gesellschaftlichen Kräfte freisetzt, an deren Vorhandensein wir doch alle irgendwie glauben?

Vermochten wir, rechtzeitig zu diesem WM-Turnier die alten, so erfolgreichen deutschen Tugenden zurückzugewinnen, die im Ausland immer noch als unsere ureigensten Stärken angesehen und gefürchtet werden? Denn bislang ist keine neue Fußballgeneration der Kreativen in Sicht, die wie Maradona, Zidane oder Ronaldinho eine ganze Nation in einen Rauschzustand versetzen können. Und in diesen Tagen ist auch in Wirtschaft und Politik nicht jener geniale Geist in Sicht, der uns aus der Misere führen könnte. So richtet sich die Hoffnung im Lande auf ein gesundes »Wir-Gefühl«, auf wirtschaftlichen und politischen Teamgeist, auf unsere Stärken also, auf »Wir-sind-Deutschland« und »Wir-sind-Papst«-Gefühle. Und es bleibt die Hoffnung, dass sie nicht zu bloßen Parolen verkommen, sondern noch einmal unsere wahren Stärken offenbaren.

Jürgen Klinsmann hat sich als Bundestrainer mit Hartnäckigkeit und der ihm nachgesagten Sturheit über blockierende Strukturen des weltweit größten Vereins, des Deutschen Fußballbundes, hinweggesetzt. Er hat den Gemeinschaftsgeist, den unbedingten Einsatz- und Siegeswillen beschworen - und den Glauben an die Stärke der Mannschaft und ihre Chance, den Titel zu holen. Und im Ausland, wo er großes Ansehen und Respekt genießt, traut man es ihm sogar zu.

Artikel vom 10.06.2006