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»Die Welt zu Gast bei Freunden« oder neudeutsch: »Time to make friends«

Weltweiter Kick- Mitreißender Vorreiter der Globalisierung
Von Matthias Lochner


Seit dem gestrigen Freitag ist es soweit. Endlich. Um 18 Uhr rollte der Ball. Nach 1974 findet die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland statt. Zum zweiten Mal. In allen Großstädten und an Autobahnen werben seit langem Plakate: »Die Welt zu Gast bei Freunden«.

Das Motto bringt die Globalisierung des Fußballs zum Ausdruck. Zahlen verdeutlichen das: Bei der ersten Endrunde 1930 in Uruguay trugen 16 Mannschaften in 18 Spielen den Titel unter sich aus. 1982 in Spanien waren es bereits 24 Teams und 52 Spiele. Diesen Sommer werden - wie schon 1998 und 2002 - insgesamt 32 Nationen in 64 Begegnungen um den WM-Pokal spielen. Strömten 1930 schon 430 000 Zuschauer in die Stadien, waren es 1982 knappe 1,86 Millionen. Dieses Jahr werden 3,37 Millionen Fans erwartet.

»US- Journalist Franklin Foer ist der Ansicht, dass Fußball das erste Beispiel für Globalisierung gewesen sei.«
   Der amerikanische Journalist Franklin Foer, Autor des Buches »Wie man mit Fußball die Welt erklärt«, ist der Ansicht, dass Fußball das erste Beispiel für Globalisierung gewesen sei. In einem Interview mit dem Jugendmagazin »Fluter« sagte Foer kürzlich: »Fußball war der erste weltweite Hype (Medienrummel) und ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer massiven, nie da gewesenen Welle um die Erde gegangen.« Fußball werde auf der ganzen Welt geliebt. Er sei das »globalisierteste Phänomen überhaupt«. »Die Globalisierung lässt die Menschen scheinbar auf ältere Quellen ihrer Identität wie Religion oder das Stammessystem zurückgreifen. Zu diesen Tiefenstrukturen eines Gemeinwesens gehört auch der Sport«, so die Erklärung Foers. Die Fußballweltmeisterschaft zum Beispiel lasse die Erde schrumpfen und jeder werde Teil einer einzigen, globalen Konversation.

In der Tat wird ganz Deutschland vier Wochen lang zum Zentrum internationaler Begegnung und des kulturellen Austausches. Knapp drei Millionen Fans haben eine der Eintrittskarten ergattert, die im freien Verkauf zur Verfügung standen. Viele werden die Spiele in Kneipen verfolgen oder beim sogenannten »Public Viewing« auf Großleinwänden. Da kommen Zuschauer aller Nationalitäten, Religionen und Hautfarben zusammen.

In ihrem Grußwort schreibt Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Ich bin überzeugt: Der Funke der Begeisterung und der Völkerverständigung wird bei der Fußball-WM von Deutschland auf die ganze Welt überspringen.« Von der Idee der Völkerverständigung durch Fußball ist auch FIFA-Präsident Joseph Blatter überzeugt: »Fußball vereinigt die Völker und kann mit seiner positiven Energie einen großen Beitrag in einer bösartigen und verrückten Welt leisten.«

Hans-Georg Ehrhart, stellvertretender Leiter des Zentrums für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien in Hamburg, ist zurückhaltender. In seinem Aufsatz »Fußball und Völkerverständigung« schreibt er, dass Fußball zwar zur Förderung sozialer Solidarität und Integration beitragen und zivilisieren könne, indem er die Agressionspotenziale, die in jedem stecken, kanalisiere. Aber: »Es hängt letztlich von der Bedeutung bzw. dem Sinn ab, den wir dem Fußballspiel und der typischen Rivalität zwischen zwei gegnerischen Mannschaften bei der Konstruktion unserer sozialen Wirklichkeit beimessen.«

Ehrhart nennt Beispiele, in denen Fußball der Völkerverständigung gedient habe: Die Wirkung der WM 1954 auf den innerdeutschen Konflikt; auch die der Begegnungen zwischen Süd- und Nordkorea (2005) sowie Japan und Nordkorea (2005) und zwischen dem Irak und dem Iran (2003). Auch auf Ereignisse am Weihnachtstag 1914 an der Westfront kommt Ehrhard zu sprechen: »Deutsche, britische und französische Soldaten vereinbaren eine kurze Waffenruhe, während der sie sich außerhalb der Schützengräben im Niemandsland treffen, sich als menschliche Wesen erfahren und unter anderem miteinander Fußball spielen.«

Der promovierte Politologe verschweigt aber auch das negative Potenzial des Fußballs nicht. So die Katastrophe im Heysel-Stadion in Brüssel 1985: Auseinandersetzungen unter den Zuschauern lösen eine Massenpanik aus, in der 39 Menschen getötet und über 400 verletzt werden, davon viele schwer. Auch die Vorfälle 1998 in Lens: Deutsche Hooligans prügeln den französischen Polizisten Daniel Nivel beinah zu Tode. Er wird so massiv verletzt, dass er zeitlebens schwerbehindert bleibt.

Nichtsdestotrotz überwiegt das positive Potenzial. Ein Beispiel ist das Anfang Juli in Berlin stattfindende »Festival 06«: 24 gemischte Teams aus aller Welt werden die erste Weltmeisterschaft im Straßenfußball austragen. Veranstalter ist das Netzwerk »Streetfootballworld«. Dazu gehören weltweit 70 Projekte, die zeigen, dass Fußball durchaus friedensstiftend wirken kann zwischen eher verfeindeten Ethnien: In Ruanda spielen gemeinsam Tutsi und Hutus, in Tel Aviv Israelis und Palästinenser, in Belgrad Serben, Sinti und Roma. Weltenbummler und Fußballtrainer Rudi Gutendorf im Fußballmagazin »11 Freunde« über seine Arbeit in Ruanda nach dem Völkermord: »Die Söhne habe ich dann vereint in der Nationalmannschaft. Und dann haben wir das Glück gehabt, Kenia im Afrika-Pokal zu schlagen. Da hat der Tutsi geflankt und der Hutu eingeköpft. Da haben die vor Freude gekuschelt und sich geküsst, das ganze Stadion und das ganze Land. Seit der Zeit weiß ich, was Fußball bewirken kann.«

»In einer freundschaftlichen, friedlichen Atmosphäre verhalten sich auch gewaltbereite Fans friedlich.«
Wie kann Völkerverständigung während der WM aussehen? Die mehrsprachige Internetseite »http://www.fifaworldcup.com/fanguide- 2006« behandelt von Anreise bis Unterkunft alle Themen, die vor allem für ausländische Fans von Interesse sind. Das Besondere: Die Seite liegt zwar in der Verantwortung des WM-Organisationskomitees, wird jedoch inhaltlich von Fußballfans gestaltet nach dem Motto »Von Fans für Fans«. Ziel sei es, so der Vizepräsident des Komitees Horst R. Schmidt, Gastfreundschaft erfahrbar zu machen. Denn: »In einer freundschaftlichen, friedlichen Atmosphäre verhalten sich auch gewaltbereite Fans friedlich und lassen sich von der entspannten, fröhlichen Atmosphäre anstecken.«

»Fußball birgt Chancen und Risiken«, schreibt Ehrhart: »Es liegt an uns, die Chancen, die er für die Völkerverständigung bietet, zu nutzen.« Nutzen alle Beteiligten die Chance, haben wir »die Welt zu Gast bei Freunden«.

Artikel vom 10.06.2006