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Erst jetzt dämmerte mir, dass hinter all dem eine Absicht gestanden haben könnte, dass der Unfall als vorsätzlicher Sabotageakt gedacht war, der Amaurot von seiner Zukunft abtrennen und so sicher ins Dunkel stürzen würde, als kappte jemand die Stromzufuhr. Oder als Aufschub der Exekution - je nach Sichtweise. Ich schwieg, damit sich dieser Gedanke langsam setzen und meine anderen Gedanken sich darauf einstellen konnten. Dann sagte ich: »Geht allen bestens. Könnte nicht besser sein.«
Ich stand auf und ging Richtung Hallentor. »Und, wie ist es so da drüben?«
»Würde dir gefallen«, sagte sie. »Alle trinken literweise Wodka.« Sie lachte, und ich lachte auch. Ich stand jetzt mit dem Handy an der Wange am Tor und ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. In der Filmversion unserer Leben würde das jetzt so aussehen: Ich entdecke eine Telefonzelle, nur wenige Meter entfernt, und darin Bel, die in meine Richtung schaut É
»Kommst du wieder nach Hause? Nur zur Erinnerung: Zu Hause ist es immer noch am schönsten.«
»Vielleicht, irgendwann«, sagte sie. »Vielleicht kommst ja du irgendwann hierher. Aber ich muss jetzt los, Charles. Mach dich wieder an deine Arbeit.«
»Tja É danke, dass du angerufen hast.« Ich ging zurück in die Halle, über mir das Plexiglasdach, um mich herum die stumm dahängenden Kleidungsstücke.
»War mir ein Vergnügen.«
»Gutes neues Jahr, altes Mädchen.«
»Gutes neues Jahr, Charles.«


A
ber vielleicht ist ja alles ganz anders gewesen. Vielleicht ist das ja nur ein albernes Hirngespinst meinerseits gewesen. Vielleicht hatten wir ja schon einen sehr netten Brief erhalten von einer früheren Schulfreundin von Bel, die in jener Nacht auf sie gewartet und dann bei uns angerufen hatte, aber nicht durchgekommen war, die dann in Panik selbst ein Taxi gerufen, zum Flughafen gefahren, allein in das Flugzeug gestiegen und schließlich in einem russischen Ferienort eingetroffen war, wo die Neuigkeit schon auf sie wartete, wo sie dann noch eine Woche lang in einem tobenden Schneesturm festsaß, bis die Straßen endlich wieder frei waren und sie wieder nach Hause fliegen konnte, aber zu spät natürlich, zu spät für die Beerdigung. Vielleicht hatte ja nur jemand die falsche Nummer gewählt, oder es war Frank gewesen, der mich fragen wollte, ob er mir einen Döner mitbringen solle, er und Droyd wären jetzt gerade in dem Döner-Laden, oder es war jemand anders gewesen, Patsy Olé zum Beispiel, die mich fragen wollte, ob wir uns nicht später noch treffen könnten.


W
enn Sie wollen, können Sie sich für diese Alternative entscheiden, für die endlosen Träume mit von Seetang umschlungenen Armen, für die zahllosen flüchtigen Bilder von ihr in Wolken, auf Plakatwänden, in den Gesichtern anderer Menschen. Ich allerdings ziehe folgende Version vor: in der sie nachts wach liegt und ihre Pläne schmiedet; in der sie befreit ist von ihrem Leben, von ihrem unaussprechlichen Namen, weggezaubert ins MacGillycuddysche Universum, wo die Menschen verschwinden, um anderswo wieder aufzutauchen, mit französischem Akzent und falschen Schnauzbärten, wo alles sich permanent verändert und niemand jemals stirbt.
»Warum heißt es eigentlich Ýauf den Hund gekommenÜ? Ein Hund ist doch was Nettes. Wenn man völlig abgebrannt ist, dann müsste das doch eher so was heißen wie Ýauf die Ratte gekommenÜ, oder nicht?«
»Keine Ahnung«, sagte ich.
Patsy und ich gingen am Ufer hinter der Lagerhalle spazieren. Es war spät und unglaublich kalt, und die Nacht entrollte sich über dem Meer wie eine billige Pappkulisse, blau und voller Sterne. Patsy hatte noch immer das Schaumgummigeweih aus der Arbeit auf dem Kopf. Als sie von ihrer großen Tour zurückgekommen war, hatte sie feststellen müssen, dass ihre Familie in die Fänge eines grässlichen Tribunals geraten war. Ihr Vater war praktisch jede Woche in Dublin Castle und musste Fragen nach diesen angeblichen Zahlungen und Treffen beantworten, die jetzt schon drei oder vier Jahre zurücklagen. Wie sollte er sich daran noch erinnern? »Solange sind alle Konten erst mal eingefroren, und ich serviere irgendwelchen Schwachköpfen Kaffee und Panini.«
»So schlimm kann das ja nicht sein.«


U
nd ob. Es ist ein Albtraum. Ein Albtraum, aus dem ich so schnell wie möglich wieder raus will.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Ein Geweih, Charles. Was ist das für ein Despot, der einen Menschen zwingt, ein Geweih zu tragen? Nicht mal die Nazis haben die Leute gezwungen, Geweihe zu tragen. Jemand sollte einen Brief an Amnesty International schreiben.«
»Die kümmern sich auch um Hirsche?«
»Charles, bitte.«
»Õtschuldige.«
»Aber wahrscheinlich legt sich das sowieso bald wieder«, sagte sie und blies eine lange Rauchwolke in die Luft. »Das ist ja das Schöne an Korruption, stimmtÕs? Keiner nimmtÕs einem richtig übel.«
»Trotzdem, das muss doch ein furchtbarer Schlag für dich sein«, sagte ich sanft.
Nachdenklich schlug sie die Hände gegeneinander. »Ich weiß, dass Daddy kein Heiliger ist«, sagte sie. »Aber wer ist das schon, Charles? Wenn man Erfolg haben will im Leben, dann muss man sich die Hände schmutzig machen, stimmtÕs nicht? Außerdem, weißt du eigentlich, was die Anwälte bei diesem Tribunal kriegen? Zigmal mehr, als Daddy gezahlt hat. Die sollte man mal vor einen Richter zerren.« Sie seufzte. »Das ist alles so erbärmlich lästig. Daddy macht schon nichts anderes mehr, als von morgens bis abends das Haus nach irgendwelchen Papierschnipseln zu durchsuchen, die er dann hinten im Garten verbrennt. Du hättest unser Halloweenfeuer dieses Jahr sehen sollen. Sah aus wie in Flammendes Inferno. Und É er hat mir meine Kreditkarten weggenommen.« Sie schnippte ihre Zigarette ins Meer. »Es ist alles so unsäglich lästig«, sprach sie mit zusammengekniffenen Augen ihr Urteil über die Zivilisation als solche.


I
rgendwann während unseres Spaziergangs hatte ihre Hand die meine gefunden, und gegen die Kälte schwangen wir sie wie Kinder vor und zurück.
»Und wie läuftÕs bei dir?« Sie sah mich von der Seite an.
»Weiß nicht«, sagte ich und fügte in leisem Singsang hinzu: »My Heart will go on.«
Sie blickte versonnen aufs Meer, von wo dunstige Regenwände Richtung Land trieben. »Das verdammte Land ist schuld«, sagte sie. »Wie soll man in einem Land leben, in dem es dauernd regnet?« Sie seufzte. »Vielleicht ist Hoylands Idee genau die richtige É Ich hab gestern mit ihm gesprochen, hatte ich dir das erzählt? Er meint, wir sollten dieses schauderhafte Land einfach abhaken. Auswandern. Auf irgendeine Tropeninsel. Unsere eigene, bessere Gesellschaft aufziehen. Wir könnten Bienenstöcke haben, Polo spielen, so was eben.«
»Dort will ich Bohnen reihen, ein Bienenkorb steht im Klee«, rezitierte ich abwesend.
»Was?«
»Was? Oh, entschuldige. Yeats. Hatte mal eine ähnliche Anwandlung, damals im zwanzigsten Jahrhundert. HatÕs einfach nicht mehr ausgehalten hier. Er hatte diese Idee von einem magischen, mystischen Irland. Jeder war eingeladen. So eine Art Utopia. Hat nicht geklappt, logisch. Klappt nie.«
»Wir bräuchten natürlich jemanden zum Saubermachen, das ist klar É« Patsy strich sich nachdenklich übers Kinn. Dann warf sie die Arme in die Luft und rief: »Ach Gott, es ist so sinnlos, es ist ja alles so vollkommen sinnlos!«

N
eben der Uferstraße ragte eine Plakatwand in den Himmel. Darauf war ein wunderschönes Mädchen in zerlumpten, verstaubten Klamotten zu sehen. Schmutz und Tränen verklebten ihr Gesicht. Sie stand zwischen den Trümmern einer zerbombten Stadt und starrte mit leidenschaftlichem Blick in die Ferne. warum reden wir nicht miteinander? lautete die Botschaft, die unten quer über die Plakatwand geschrieben stand. Rechts daneben prangte das Telsinor-Logo. »Das Mädchen hab ich mal gekannt«, sagte ich zu Patsy.


D
er Wind pfiff, die Wellen krachten ans Ufer. Die Landzungen im Osten und Westen stießen ins Meer und umschlangen es, als wollten sie etwas festhalten, das unbedingt, um jeden Preis ausbrechen wollte. Wie bei einer Fotografie, dachte ich: wie bei den Fotos in den Jahrbüchern, bei den Mädchen mit ihren Zöpfen und Pferdeschwänzen, jenen Mädchen, die mich und meine drängelnden Freunde an jenem Tag hinter der Cricketumkleide angeschaut hatten; die jetzt mit ihren eigenen Abschweifungen beschäftigt waren, die aber dennoch, begleitet von unseren Schwärmereien und Seufzern, immer bei uns bleiben würden, in Gestalt jenes Bruchteils der Sekunde, bevor der Verschluss zumachte; bevor der Verschluss zumachte und die Kamera klickte und jeder lachte und über den anderen hinwegkletterte und kichernd in den nächsten Ausschnitt seines Lebens hineinstolperte und dann in den nächsten und nächsten.







(ENDE)

Artikel vom 15.07.2006