14.07.2006
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Ihre Finger kreisten auf dem Rand des Glases, dann, plötzlich, hellten sich ihre Züge auf. »Aber damals, Charles, früher, was waren das für fröhliche Zeiten. Und heute? All die kleinen Leute und ihre Regeln. Aber damals É damals, als das Haus noch voller Leben war, als der Stallbursche den Brougham vorgefahren hat, und die Hausmädchen haben sich in ihren Kleidchen aufgestellt und ihren Knicks gemacht, und die Diener und der Chauffeur und der Koch, in jedem Raum pulsierte das Leben É«
»Aber, Mutter«, widersprach ich sanft. »Das hatten wir doch alles gar nicht. In Amaurot hatten wir doch gar nicht so viel Personal.«
»Ich meine nicht uns, Charles«, sagte sie. »Ich meine damals, in den alten Zeiten, im letzten Jahrhundert, bevor wir hier gewohnt haben. Und jetzt haben wir ein neues Jahrhundert«, fügte sie verächtlich hinzu, und ihre Augen glänzten glasig, während sie sich Sherry nachschenkte und geistesabwesend Schlückchen um Schlückchen nachgoss, bis die Flüssigkeit zitternd den Rand des Glases erreichte. »Wie fröhlich muss das damals gewesen sein, wie fröhlich É« Und sie schüttelte den Kopf, zärtlich lächelnd, und nahm gar nicht wahr, dass ich die Klinke hinunterdrückte und mich in die zugige Halle schlich.
Ich konnte sie nicht so oft besuchen, wie ich gern gewollt hätte. Ich machte mir Sorgen um sie. Einmal rief ich im Cedars an und fragte nach, ob sie sie vielleicht wieder aufnehmen könnten, nur für kurze Zeit; aber anscheinend hatte es Probleme mit dem letzten Scheck gegeben, und so hakte ich das Thema ab.
Und so ging mein neues Leben dahin. Die Nachtschicht bedeutete, dass ich kaum mit anderen Menschen sprach, und dass sie so ruhig ablief, gefiel mir; es war, als schwämme ich unter Wasser durch die Ruinen einer versunkenen Stadt.
Und dann, eines Abends, bekam ich einen Anruf.
E
Ich spürte ein Ziehen in der Brust, als ich dem Geräusch nachging, vorbei am Kabuff des Vorarbeiters, durch das Rollladentor und den Krankenschwesterngang bis zu meinem Schreibtisch, wo unter einem Stoß von Bestellscheinen Bels Handy lag.
Ich hatte es eigentlich nur als Souvernir behalten - oder als eine Art Kuscheltierchen. Droyd hatte mir gezeigt, wie es funktionierte, wie man es anstellte und auflud. Aber ich benutzte es nie, außer dass ich staunend sein Display betrachtete, und Anrufe erhielt ich auch fast nie. Doch jetzt lag es vor mir auf dem Tisch und dudelte. Ich nahm es in die Hand, drückte auf einen Knopf, hielt es an mein Ohr und hörte eine Stimme, die »Charles?« sagte.
Die ganze Lagerhalle, die ganze Welt, jedes einzelne Luftpartikel schien in regungslosem Argwohn zu erstarren.
»Hallo?«, sagte die Stimme.
»Ja, ja, ich bin dran«, sagte ich hastig.
»Ich hatte gehofft, dass du abhebst«, sagte die Stimme.
Ich sank auf meinen Stuhl.
»Warum sagst du nichts?«
Mein Herz raste, deshalb. Ich wischte mir einen eisigen Schweißtropfen von der Stirn und sagte: »Bist du das?«
»Natürlich, wer sonst? Kennst du meine Stimme nicht mehr?«
»Doch, aber É verdammt.« Das verdammte Telefon war so klein, dass es sich dauernd in meiner Hand verirrte. »Verdammt, wir haben alle gedacht, dass du É«
»So warÕs ja auch gedacht.«
»So warÕs É?« Ich stand wieder auf. Ich war völlig durcheinander; meine Befindlichkeit schwankte zwischen Erleichterung, Dankbarkeit und Hirnstillstand. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Mehr als das, wir waren É Ich meine, das war das erbärmlichste, egoistischste É«
S
»Worauf?«
»Der Name.«
»Der Name?«
Der Name, wiederholte sie, der Name, jetzt komm schon, Charles, denk nach. Und allmählich dämmerte es mir. Jessica Kiddon É Jess Kiddon É just kidding. Alles nur Spaß!
»MacGillycuddy«, keuchte ich.
»Vielleicht hätte ich doch tempora mores nehmen sollen«, sagte Bel nachdenklich.
just kidding: einer von MacGillycuddys schrägen Einfällen, den ich aus tausend Metern Entfernung hätte riechen müssen. Und jetzt, da ich Bescheid wusste, konnte ich einfach nicht glauben, dass ich tatsächlich nichts gerochen hatte. Ich hätte wissen müssen, dass er da bis zum Hals mit drinsteckte; ich hätte wissen müssen, dass die Bitte, sich aus unserem Leben herauszuhalten, so viel nutzte, wie einen Geist freundlich zu bitten, doch in seine Flasche zurückzukehren, oder einen attackierenden Stier dadurch verscheuchen zu wollen, indem man mit einem großen roten Stofffetzen wedelte. Bevor sie auch nur ein einziges weiteres Wort sagte, wurden mir mehrere ungeklärte Phänomene plötzlich klar. Die Einladung zum Dinner, die ich nicht bekommen hatte; die mysteriöse Schulfreundin, die nicht im Jahrbuch auftauchte; die Geräusche in jener Nacht, als ob jemand Holz hackte: Er hatte eine Schneise für den Wagen geschlagen, und zwar genau bis zu der Stelle an den Klippen, von wo ich mich auf MacGillycuddys Rat hin unbedingt hätte in den Tod stürzen sollen, anstatt mich in die Luft zu jagen. Es gab keine Meisterklasse in Jalta, und es gab keine Jessica Kiddon. Bel hatte meine Idee mit dem dann fehlgeschlagenen Fluchtversuch nach Chile abgekupfert. Was angesichts der unhöflichen Bemerkungen, die sie damals darüber hatte fallen lassen, ein ziemlich starkes Stück war.
T
A
»Und wie läuftÕs so mit dem Theater?«, sagte sie leichthin und wechselte unvermittelt das Thema. »Wie gehtÕs Harry und Mirela; wie stehtÕs mit den Plänen für Amaurot?«
Einen Augenblick lang war ich sprachlos. Das Theater war Geschichte. Die Pläne für Amaurot, die Umgestaltung, die Statuen, die Vermählung von Kunst und Kommerz, Harrys und Mirelas Verlobung, all das war zusammen mit dem flaschengrünen Mercedes zerstört worden.
Artikel vom 14.07.2006