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Sie hielt kurz inne, fuhr mit einem Finger über den Rand ihres Sherryglases und sagte dann: »Eine wahre Schauspielerin, Charles, gewährt nie einen Blick auf sich selbst. Wenn sie die Bühne betritt, erschafft sie sich jedes Mal neu, sie benutzt, was um sie herum ist. Und wenn sie die Bühne wieder verlässt, entkleidet sie sich wieder, einfach so É« Sie breitete die Arme aus und schüttelte sich eine imaginäre Robe von den Schultern. »Das Leben einer Schauspielerin ist nur der Haken, an dem sie ihr Ich aufhängt. Aber Bel É Bel É« Sie hielt wieder inne und lächelte traurig. »Bel hat immer verlangt, dass das Leben nach ihrer Pfeife tanzt. Sie wollte nie begreifen, wie nützlich Kompromisse sind. In der Beziehung war sie wie ihr Vater; sie hat es sich schwerer gemacht, als es ohnehin schon war É«
Ihre Finger kreisten auf dem Rand des Glases, dann, plötzlich, hellten sich ihre Züge auf. »Aber damals, Charles, früher, was waren das für fröhliche Zeiten. Und heute? All die kleinen Leute und ihre Regeln. Aber damals É damals, als das Haus noch voller Leben war, als der Stallbursche den Brougham vorgefahren hat, und die Hausmädchen haben sich in ihren Kleidchen aufgestellt und ihren Knicks gemacht, und die Diener und der Chauffeur und der Koch, in jedem Raum pulsierte das Leben É«
»Aber, Mutter«, widersprach ich sanft. »Das hatten wir doch alles gar nicht. In Amaurot hatten wir doch gar nicht so viel Personal.«
»Ich meine nicht uns, Charles«, sagte sie. »Ich meine damals, in den alten Zeiten, im letzten Jahrhundert, bevor wir hier gewohnt haben. Und jetzt haben wir ein neues Jahrhundert«, fügte sie verächtlich hinzu, und ihre Augen glänzten glasig, während sie sich Sherry nachschenkte und geistesabwesend Schlückchen um Schlückchen nachgoss, bis die Flüssigkeit zitternd den Rand des Glases erreichte. »Wie fröhlich muss das damals gewesen sein, wie fröhlich É« Und sie schüttelte den Kopf, zärtlich lächelnd, und nahm gar nicht wahr, dass ich die Klinke hinunterdrückte und mich in die zugige Halle schlich.
Ich konnte sie nicht so oft besuchen, wie ich gern gewollt hätte. Ich machte mir Sorgen um sie. Einmal rief ich im Cedars an und fragte nach, ob sie sie vielleicht wieder aufnehmen könnten, nur für kurze Zeit; aber anscheinend hatte es Probleme mit dem letzten Scheck gegeben, und so hakte ich das Thema ab.
Und so ging mein neues Leben dahin. Die Nachtschicht bedeutete, dass ich kaum mit anderen Menschen sprach, und dass sie so ruhig ablief, gefiel mir; es war, als schwämme ich unter Wasser durch die Ruinen einer versunkenen Stadt.
Und dann, eines Abends, bekam ich einen Anruf.

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s war ein bitterkalter, graupeliger Winterabend, so verdammt kalt, dass sogar die Uniformen an ihren Stangen zu zittern schienen und am liebsten die Hände gegeneinander geschlagen hätten, wenn sie welche gehabt hätten. Ich war während meiner Acht-Uhr-Pause im Dorf gewesen, um mich mit einem Kaffee etwas aufzuwärmen. Als ich wieder zurückkam, sah alles wie immer aus. Rosco arbeitete am anderen Ende der Halle, die Pappkartons lagen genau da, wo ich sie aufgestapelt hatte. Und doch kam mir die Luft irgendwie veredelt vor, hyperreal, als ob jemand an der Scharfeinstellung gedreht und für klarere Sicht gesorgt hätte. Ich blieb einen Augenblick am Eingang stehen und ließ meinen Blick durch die kalte Halle schweifen. Und dann hörte ich ein Telefon klingeln.
Ich spürte ein Ziehen in der Brust, als ich dem Geräusch nachging, vorbei am Kabuff des Vorarbeiters, durch das Rollladentor und den Krankenschwesterngang bis zu meinem Schreibtisch, wo unter einem Stoß von Bestellscheinen Bels Handy lag.
Ich hatte es eigentlich nur als Souvernir behalten - oder als eine Art Kuscheltierchen. Droyd hatte mir gezeigt, wie es funktionierte, wie man es anstellte und auflud. Aber ich benutzte es nie, außer dass ich staunend sein Display betrachtete, und Anrufe erhielt ich auch fast nie. Doch jetzt lag es vor mir auf dem Tisch und dudelte. Ich nahm es in die Hand, drückte auf einen Knopf, hielt es an mein Ohr und hörte eine Stimme, die »Charles?« sagte.
Die ganze Lagerhalle, die ganze Welt, jedes einzelne Luftpartikel schien in regungslosem Argwohn zu erstarren.
»Hallo?«, sagte die Stimme.
»Ja, ja, ich bin dran«, sagte ich hastig.
»Ich hatte gehofft, dass du abhebst«, sagte die Stimme.
Ich sank auf meinen Stuhl.
»Warum sagst du nichts?«
Mein Herz raste, deshalb. Ich wischte mir einen eisigen Schweißtropfen von der Stirn und sagte: »Bist du das?«
»Natürlich, wer sonst? Kennst du meine Stimme nicht mehr?«
»Doch, aber É verdammt.« Das verdammte Telefon war so klein, dass es sich dauernd in meiner Hand verirrte. »Verdammt, wir haben alle gedacht, dass du É«
»So warÕs ja auch gedacht.«
»So warÕs É?« Ich stand wieder auf. Ich war völlig durcheinander; meine Befindlichkeit schwankte zwischen Erleichterung, Dankbarkeit und Hirnstillstand. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Mehr als das, wir waren É Ich meine, das war das erbärmlichste, egoistischste É«

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chweigen am anderen Ende. Einen terrorisierenden Augenblick lang glaubte ich, sie verjagt zu haben. Dann sagte die Stimme: »Ich weiß. Es tut mir Leid. Aber ich hatte nicht gedacht, dass du É Ich meine, ich hab gedacht, du kommst drauf.«
»Worauf?«
»Der Name.«
»Der Name?«
Der Name, wiederholte sie, der Name, jetzt komm schon, Charles, denk nach. Und allmählich dämmerte es mir. Jessica Kiddon É Jess Kiddon É just kidding. Alles nur Spaß!
»MacGillycuddy«, keuchte ich.
»Vielleicht hätte ich doch tempora mores nehmen sollen«, sagte Bel nachdenklich.
just kidding: einer von MacGillycuddys schrägen Einfällen, den ich aus tausend Metern Entfernung hätte riechen müssen. Und jetzt, da ich Bescheid wusste, konnte ich einfach nicht glauben, dass ich tatsächlich nichts gerochen hatte. Ich hätte wissen müssen, dass er da bis zum Hals mit drinsteckte; ich hätte wissen müssen, dass die Bitte, sich aus unserem Leben herauszuhalten, so viel nutzte, wie einen Geist freundlich zu bitten, doch in seine Flasche zurückzukehren, oder einen attackierenden Stier dadurch verscheuchen zu wollen, indem man mit einem großen roten Stofffetzen wedelte. Bevor sie auch nur ein einziges weiteres Wort sagte, wurden mir mehrere ungeklärte Phänomene plötzlich klar. Die Einladung zum Dinner, die ich nicht bekommen hatte; die mysteriöse Schulfreundin, die nicht im Jahrbuch auftauchte; die Geräusche in jener Nacht, als ob jemand Holz hackte: Er hatte eine Schneise für den Wagen geschlagen, und zwar genau bis zu der Stelle an den Klippen, von wo ich mich auf MacGillycuddys Rat hin unbedingt hätte in den Tod stürzen sollen, anstatt mich in die Luft zu jagen. Es gab keine Meisterklasse in Jalta, und es gab keine Jessica Kiddon. Bel hatte meine Idee mit dem dann fehlgeschlagenen Fluchtversuch nach Chile abgekupfert. Was angesichts der unhöflichen Bemerkungen, die sie damals darüber hatte fallen lassen, ein ziemlich starkes Stück war.

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atsächlich war ihr Plan, so wie sie ihn mir an jenem Abend auseinander setzte, wesentlich ausgefeilter als meiner. Das musste er auch sein, sagte sie, denn sie hätte über kein eigenes Geld verfügt, und die einzige Möglichkeit, ihre Flucht zu finanzieren, sei die gewesen, diese neue Figur zu erschaffen, das anständige Mädchen, das Mutter davon überzeugen konnte, die erforderliche Summe herauszurücken. Uns alle mit der fiktiven Jessica bekannt zu machen (errötend fiel mir unser Telefonflirt nach dem Windhundrennen ein) verschaffte ihr zudem die Zeit und die Möglichkeiten, nach der Abreise ihre Spuren zu verwischen. Die Idee war, unter eigenem Namen unter dem Vorwand der Tschechow-Meisterklasse nach Russland zu reisen: Was uns betraf, so würde Jessica mit ihr reisen und alles sähe einwandfrei aus. Erst nach ihrer Ankunft kämen der getürkte Pass und andere Papiere, die MacGillycuddy beschafft hatte, ins Spiel. So wie sie es geplant hatte, hätte sie nun sechs Monate lang Zeit (die Dauer der vorgetäuschten Meisterklasse), um sich in Jessica zu verwandeln - in die Jessica ohne Wurzeln und familiären Hintergrund, die problemlos verschwindet und die man nie würde aufspüren können. Und Bel Hythloday würde sich einfach verflüchtigen, ohne das Durcheinander, den Schmerz oder das logistische Kopfzerbrechen eines fingierten Todes durch Ertrinken, Explosion oder Autounfall.

A
ber du hast den Autounfall inszeniert«, sagte ich verwirrt. »Was hatte es für einen Sinn, einen derart ausgeklügelten Plan zu ersinnen, all die Vorarbeiten zu erledigen, um dann in letzter Minute alles über den Haufen zu werfen und sich für den Unfall zu entscheiden - und uns mit all dem Durcheinander und Schmerz zurückzulassen?«
»Und wie läuftÕs so mit dem Theater?«, sagte sie leichthin und wechselte unvermittelt das Thema. »Wie gehtÕs Harry und Mirela; wie stehtÕs mit den Plänen für Amaurot?«
Einen Augenblick lang war ich sprachlos. Das Theater war Geschichte. Die Pläne für Amaurot, die Umgestaltung, die Statuen, die Vermählung von Kunst und Kommerz, Harrys und Mirelas Verlobung, all das war zusammen mit dem flaschengrünen Mercedes zerstört worden.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.07.2006