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Sie waren verrucht, burschikos, spröde, linkisch - wie zu Zeiten Cleopatras, à la Régence oder dekadent wie im Berlin der zwanziger Jahre; wie Flappers, Hippies und arabische Prinzessinnen - er schürfte in ihren Gesichtern nach Geschichten, Mythen und Wünschen, die so alt waren wie die Menschheit oder älter, wie seltene Erzschichten, die in der Erde ihrer jungen Gesichter schlummerten.
In den Zeitschriften entwickelten die Gesichter dieser flüchtigen Mädchen Kraft, eine Kraft, die mein Vater abrufen und - wie bei der alten Varieténummer mit den Tellern, die sich auf einem Stock drehen - ausbalancieren konnte. Sie konnten in jedes Alter, jeden Gefühls- oder Geisteszustand versetzt werden; und mit ihnen verwandelte sich auch ihre Umgebung:Aus ungeordnetem, unbeholfenem Leben wurde eine Geschichte mit einer Richtung, einer Bedeutung. Wenn sie dich von den Hochglanzseiten anschauten, schienen ihre Gesichter alles zu versprechen: Sie versprachen, dass man alles werden konnte, dass sie dich mitnehmen würden und du dein eigenes Ich zurücklassen konntest.

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ahrscheinlich sei sie mitten durch die Windschutzscheibe geschossen, sagte der Kriminaltechniker, durch die Windschutzscheibe und dann über die Mauer ins Meer. Ein so altes Auto böte bei einem Aufprall nicht viel Schutz. Bei der Untersuchung des Wracks fand er keinen Anhaltspunkt dafür, warum sich das Auto so ruckartig in Bewegung gesetzt haben könnte - andererseits war es so stark beschädigt, dass man nichts Genaues sagen konnte. Außerdem hätten solche Wagen immer ihre ganz eigenen Macken. Eigentlich seien das ja Museumsstücke, mit denen fuhr man nicht in der Gegend herum.
In bestimmten Notlagen blühte Mutter auf. Während alle anderen wie betäubt herumstolperten, kümmerte sie sich in der folgenden Woche um die über das Anwesen ausschwärmenden Streifen- und Kriminalbeamten; sie beantwortete Fragen, besorgte Kopien von alten Krankenberichten, sah zu, dass sie zu essen bekamen. Nachdem man die Unfallzeit auf etwa halb fünf festgelegt hatte, war sie es, die sich daran erinnerte, dass das Taxi für punkt vier bestellt gewesen war. Und sie war es auch, die den Gedanken äußerte, Bel habe wohl erkannt, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen schaffen würde, sei in Panik geraten und habe sich in den vorsintflutlichen Mercedes gesetzt, über den sie aber auf dem nassen Gras praktisch augenblicklich die Kontrolle verloren habe. Die Polizei gab ihr später Recht, das sei wohl die wahrscheinlichste Erklärung.

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ie Beamten nahmen unsere Aussagen auf, blieben aber ansonsten die meiste Zeit draußen im Garten. Sie fotografierten die Garage, markierten mit Klebeband die Aufprallstelle und machten Gipsabdrücke von den Reifenspuren, die über den Rasen durch gesplittertes Holz und abgerissene Zweige bis zu dem Mercedes führten, durch dessen zerschmetterte Windschutzscheibe salzige Luft blies. Der Wagen stand in einem Haufen von Glassplittern und Steinbrocken an der niedrigen Mauer, hinter der das Felsenufer steil zum Wasser abfiel - zufälligerweise keinen Meter von der Stelle entfernt, von wo aus Vater an jenen längst vergangenen Abenden immer auf die Wellen hinuntergeschaut und für Bel und mich Gedichte rezitiert hatte: Komm hinweg, du Menschenkind, zu den Wassern, zu dem Wind.
Unten waren Boote mit Tauchern zu sehen, doch das Wasser vor den Klippen war so unruhig, dass eine richtige Suche nicht möglich war. Wir müssten einfach abwarten, sagten sie bedeutungsvoll, und wir verstanden und nickten. Die ganze Zeit rechnete ich damit, dass sie lachend ins Zimmer spazieren und erklären würde, alles sei nur ein Ulk, eine abgekartete Sache, ein Missverständnis gewesen. Aber sie tauchte nicht auf und wurde auch nicht ans Ufer gespült; nach einer Woche legte der Untersuchungsrichter den Fall mit dem Urteil »Unglücksfall mit tödlichem Ausgang« zu den Akten.
Die ohnehin schon bedrückend unwirkliche Atmosphäre während des Gottesdienstes wurde durch Bels Abwesenheit noch verstärkt. Die Prozedur in der winzigen Kirche hatte etwas von einer Probe (aber für wen? für was?); die Leute gingen merkwürdig behutsam mit ihrer Trauer um. Mutter arbeitete hart dagegen an, um dem Anlass die angemessene Würde zukommen zu lassen. Anwesend waren: die orgiastisch wehklagenden Schauspieler; die Freunde vom Trinity College; die von der Zeit schon etwas gezeichneten Mädchen aus ihren Schuljahrbüchern; die zahllosen Tölpel, Dumpfbacken, Schwachköpfe und Beckmesser, mit denen sie gegen meinen Rat ihre Zeit verplempert hatte; die Litanei aufgeblasener Onkel und Tanten sowie dröger Cousins und Cousinen zweiten Grades, die angeführt wurde von Mutters Tante, der giftigen alten Jungfer, die anscheinend nur zu Anlässen wie diesem wieder zum Leben erwachte; Freunde der Familie, soll heißen, Figuren aus der feinen Gesellschaft, denen man nur ein oder zwei Mal begegnet war: der Kerl mit dem glänzenden Schädel und den Supermärkten, einige unbedeutende Gestalten aus dem Smorfett-Klan, der Earl aus Soundso, der sich mal vor vielen Jahren bei einem Riesenfest in Mutters Dekolleté übergeben hatte. Jeden Einzelnen begrüßte Mutter mit einem Lächeln und einem tief empfundenen Wort des Dankes. In solchen Dingen war sie wirklich gut.

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och am selben Abend rief sie die Theaterleute zu sich und sagte ihnen, dass die Familie es vorzöge, eine Zeit lang in Ruhe gelassen zu werden. Erst als sie alle aus dem Haus waren, ging mir auf, dass mit »Familie« jetzt nur noch wir beide, plus unserem dürftigen Gefolge, gemeint waren.
In der Stille der folgenden Nachmittage schien das Haus größer zu werden, größer und kälter, egal, wie viele Kamine angezündet waren. Man kam sich ein bisschen vor wie ein Arktisforscher, der eine Eiswüste durchwanderte; man tappte ziellos herum, einzig gewärmt von zahllosen Tassen Tee und der Zunge des rekonvaleszenten Hundes, der einem die Hand leckte. Vuk und Zoran hatten sich in den Gartenschuppen zurückgezogen, wo man sie ganz leise »You Are My Sunshine« üben hören konnte. Mirela verließ ihr Zimmer nie. Es war möglich, einen ganzen Tag lang mit niemandem zu sprechen.
Gelegentlich lief mir Mutter über den Weg, auf der Treppe oder in der Halle, immer im Morgenmantel und mit einem Glas Whisky in der Hand. Wir wechselten dann ein paar flüchtige Sätze über die Spinnweben oder den Staub. Mrs P kochte Mahlzeiten, die niemand aß und die den ganzen Abend auf dem Esszimmertisch standen; sie putzte, wischte und saugte Staub von morgens bis abends, und doch sah es immer gleich aus. Jeden Tag fiel ein weiteres Stück vom Haus der Dunkelheit anheim. Ältere Mächte setzten sich wieder ins Recht, und wir leisteten nur wenig Widerstand.

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ch saß die meiste Zeit in Bels Zimmer, blätterte in ihren Jahrbüchern oder schaute mir alte Fotos aus der Zeit vor dem Fotografierverbot an. Auf einem hatte sie die Arme um den namenlosen Hund geschlungen und schaute in die Kamera, als bitte sie um Gnade für ihn. Ich fragte mich, ob sie jemals von diesem Gedanken aus ihrer Kindheit, dass nämlich nichts auf der Welt von Dauer sei, dass man jeden Schritt auf dünnem Eis tue, dass jeder Sonnenuntergang der letzte sein könne, abgelassen hatte. Ich fragte mich, ob wir es nie geschafft hatten, sie davon abzubringen. Ich saß in der bleichen Novembersonne und schaute mich im Zimmer um, als sähe ich es zum ersten Mal. Ob auf den Rosenholztüren des Kleiderschranks, den mit Rüschen besetzten Samtvorhängen, dem halben Dutzend seiden glänzender Abendkleider- ich bildete mir ein, überall ihr Bild zu sehen, das aber in dem Augenblick wieder verschwand, wenn mein Blick darauf fiel, das launisch hin und her hüpfte, bis ich, benommen und müde, der Hatz nicht länger folgen konnte und den Kopf auf das Kissen sinken ließ, wo ich ihrem Geruch nahe war und die Sonne wie eine freundliche Hand meine Wange streichelte. Und dann lächelte ich; es kam mir absurd vor, wie in einem Roman mit einem falschem Schluss; sie war nicht mehr da, und ich lag hier zwischen ihren warmen Decken auf der Matratze, die uns an vielen Sonntagnachmittagen als Floß über schäumende Stromschnellen und in düster verschlungene Seitenarme getragen hatte, nach Sankt Petersburg und Timbuktu, nach Narnia und ins Niemalsland É
Bis ich eines Tages in ihr Zimmer ging und die Dinge wieder das waren, was sie waren, eben Dinge; als wären sie über Nacht von irgendeinem Geist verlassen worden. Ich stand inmitten von namenlosen Gegenständen, einem Haufen Gerümpel aus Holz und Plastik, der mit nichts mehr irgendetwas zu tun hatte, der nur darauf wartete, durchgesehen und in Kartons verpackt oder weggeworfen zu werden. In diesem Augenblick wusste ich, dass es Zeit war zu gehen.

An dem Tag, als ich nach Bonetown zurückkehren wollte, rückten zufällig auch die Bulldozer an, die das Haus des alten Thompson abreißen sollten. In der hintersten Ecke der Veranda fanden die Bauarbeiter die aufgeknüpfte Leiche von Olivier, der schon eine Zeit lang da gehangen haben musste. Die Angestellten des Auktionshauses hatten ihn wohl übersehen, als sie das Haus ausräumten.
Die Bauarbeiter mussten ihn abschneiden. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.07.2006