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167 Anzeigen - und nicht in Haft

Seriendieb begeht jeden Tag eine Tat: Polizei darf Mann nicht einsperren

Von Jens Heinze
Bielefeld (WB). Er begeht täglich mindestens eine Straftat, 167 Anzeigen sind seit Ende Februar gegen einen 54-jährigen Deutsch-Russen erstattet worden - doch die Polizei darf den notorischen Dieb nicht in Untersuchungshaft stecken. Laut Gericht und Staatsanwaltschaft, heißt es von der ermittelnden Kripo, lägen keine ausreichenden Haftgründe vor.

In Bielefeld gilt der unbelehrbare Wiederholungstäter, der ganz ungeniert von seiner Freude am Stehlen spricht, als der Schrecken des Einzelhandels. Dass er in den Läden rund um seine Wohnung in Baumheide längst Hausverbot hat, stört den Schlosser nicht im geringsten. Fast jeden Tag, berichtet der Geschäftsleiter (47) eines SB-Warenhauses am Rabenhof, tauche der Mann wieder auf »und klaut in der Regel für 50 bis 100 Euro«. Alles, was an hochwertigen Waren nicht niet- und nagelfest sei, sacke Nikolai M. ein und versuche, zu verschwinden. Mit Blick auf die bevorstehende Weltmeisterschaft habe es der Baumheider neuerdings sogar auf Fußbälle abgesehen.
In den allermeisten Fällen wird der 54-Jährige erwischt. Dann wiederholt sich, Tag für Tag, das gleiche Spiel: Erst setzt sich ein Warenhaus-Mitarbeiter neben den Kriminellen und wartet auf das Eintreffen der alarmierten Polizei. Das bestohlene Geschäft stellt Anzeige, Nikolai M. wird zur Verhinderung weiterer Straftaten in den Polizeigewahrsam abgeführt, die Beamten schreiben einen Bericht. Weil sich die Justiz nicht dazu durchringen kann, den Serientäter in Haft zu stecken, muss der 54-Jährige Abend für Abend nach Ladenschluss um 20 Uhr aus dem Gewahrsam wieder entlassen werden. »Laut Gericht und Staatsanwaltschaft begeht der Baumheider keine erheblichen Straftaten, sondern macht sich nur des Diebstahls geringwertiger Sachen schuldig«, heißt es verbittert aus Polizeikreisen.
So kann Nikolai M. weiter in Supermärkten und an anderen Orten zugreifen, wo er fremdes Eigentum entdeckt. Dreimal hat die Polizei bereits die Baumheider Wohnung des Mannes durchsucht, 110 über die Flure bis in den Keller verteilte Beutestücke sichergestellt. »Der hatte alles gehortet: 70 Fahrräder, Schneeschieber, Laubpuster von den Stadtgärtnern, Kinderwagen und Handtaschen«, so ein Kripobeamter. Ans Aufhören denkt Nikolai M. nicht - nach einem Verhör im Polizeipräsidium wollte er einem Ordnungshüter das Rad stehlen.
Mitte Mai stand der 54-Jährige wegen seiner Straftatenserie vor Gericht. Der Prozess ist unterbrochen - es soll ein Gutachten eingeholt werden, ob der Mann überhaupt schuldfähig ist. »Bei uns müsste ein Staatsanwalt oder ein Richter eine Woche lang mal sitzen«, sagt dazu der Geschäftsführer vom Baumheider SB-Warenhaus, »der hätte ganz schnell den Hals bis oben hin voll.«

Artikel vom 03.06.2006