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Mit 97 immer noch putzmunter

Der Leineweberbrunnen: ein Denkmal als Wahrzeichen und Kunstfigur

Von Lars Rohrandt
Bielefeld (WB). Der Leineweber ist ein alter Mann von 97 Jahren. Doch lange Zeit war er nicht so putzmunter wie diese Pfingsttage. 90 Doppelgänger der Figur des Leineweberbrunnens an der Alstädter Nicolaikirche treffen sich von diesem Samstag an zum zweiten »LeinArt«-Festival in der Innenstadt.

Das am 16. Juli 1909 eingeweihte Standbild erfreut sich also als Symbol für Bielefeld einer ungebrochenen Popularität. Ein Denkmal wird zum Wahrzeichen, das Wahrzeichen wird zur Kunst, die Kunst wird gefeiert. - »Moment mal!«, denkt sich da das Denkmal, »und wo bleibe ich?«, und beginnt, eine Geschichte zu erzählen:
1909, da waren 300 Jahre vergangenen, seit in Jöllenbeck die Menschen der Grafschaft Ravensberg dem Kurfürsten von Brandenburg gehuldigt haben. Johann Sigismund hieß der neue Landesherr. Dieses Ereignis galt als Beginn der preußischen Herrschaft in Ravensberg. Und da die Bielefelder um 1900 gerne ihren Herrscher feierten - drei Mal war Kaiser Wilhelm II. in der Teuto-Stadt -Êdachten sie sich: »300 Jahre Preußen! Mensch, lasst uns ein Denkmal bauen.«
Am 17. August 1908 wurde die Aufstellung im Magistrat mit folgenden Worten beschlossen: »Der Ravensberger Bauer ist vielleicht ein Jahrhundert hindurch eine typische Figur des von der brandenburg-preußischen Regierung hier so sehr geförderten Leinegewerbes gewesen.« Als Ort wählte man den Altstädter Kirchplatz aus, für die Umsetzung Hans Perathoner, Leiter der Bildhauerklasse der Handwerker- und Kunstgewerbeschule.
Gegenüber dem Südtiroler Perathoner herrschte Skepsis: »Ist er der geeignete Mann, eine westfälische Charaktertype wie den Leineweber darzustellen?« Doch der Künstler fand in dem alten Jöllenbecker Weber Heinrich Heienbrock ein Modell, das an Originalität nichts zu wünschen übrig ließ. Oder waren es gar zwei Modelle? Der Körper und die Beine so kräftig - das ist doch Harry Breitsohl, 1909 Torwart beim VfB 03, wandten Jahrzehnte später einige ein.
Wem auch immer nun die strammen Waden gehören, fest steht, dass Oberbürgermeister Bunnemann am 16. Juli die Weiherede hielt: »Durch seine Arbeitsamkeit und Geschicklichkeit, mit der der Leineweber den Flachs zu kunstreicher Leinewand wob, hat er den Grund zu unserem ausgedehnten Gewerbebetrieb gelegt.«
Drei Meter groß ist das »Sinnbild fortdauernden Schaffens« (Bunnemann). Knotenstock, Pfeife im Mund und jedes Kleidungsdetail sauber herausgearbeitet: Heienbrock stand in seiner Tracht Modell. An den Seiten des Brunnenfundaments standen zwei Zahlen: 1609 und 1909.
Zeitsprung: Den Zweiten Weltkrieg überstand der Leineweber, doch brachte ihn der Wiederaufbau der Innenstadt in Bedrängnis: Als 1954 der Altstädter Kirchplatz umgestaltet werden sollte, wurde der Leineweber in den Bauhof gebracht. Angeblich war der Sokkel stark beschädigt -Êund wurde daher Schotter. »Was ist mit unserem Denkmal?«, fragten die Bielefelder immer wieder. Erst im September 1960 fällte die Stadt die Entscheidung, das Denkmal nahe dem alten, dem heutigen Standort wieder aufzustellen. Am 20. Dezember dann die zweite Enthüllung: Sockel und Brunnenbecken wurden schlichter und abstrakter. »Viel von diesem Wissen ist verblasst«, denkt sich der 97-jährige Leineweber heute. Eins ist geblieben: Das Denkmal steht für die Heimat der Bielefelder -Êim Jahre 1909 ebenso wie 2006.
Weitere Informationen finden sich in einem Artikel von Dr. Gerhard Renda, Historisches Museum: »Der Leineweberbrunnen in Bielefeld. Zur Genese eines Wahrzeichens«, in: 85. Jahresbericht des Historischen Vereins 1998/99.

Artikel vom 03.06.2006