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Aus dem Supermarkt Natur
Unterwegs mit dem Bionic Car - der eher unförmige Kofferfisch ist Vorbild für das Mercedes-Konzeptfahrzeug
Die Natur ist wie ein riesiger Supermarkt der Ideen. Man muss sich nur bedienen. Techniker und Designer wissen das schon lange. Wenn sie dann auch noch mit entsprechenden Freiheiten ausgestattet sind, werden die unglaublichsten Dinge wahr.
Fische verwandeln sich beispielsweise in richtige Autos, wie Mercedes mit dem »Bionic Car« nachdrücklich beweist. Wir sind jetzt mit einem solchen »Autofisch« gefahren.
»Bei der Entwicklung des Konzeptfahrzeugs war nicht ein Auto die Vorgabe. Bei der Idee für das Bionic Car stand zunächst die Natur im Mittelpunkt. Und deren Vorgaben haben wir konsequent umgesetzt.« Mercedes-Designer Steffen Köhl verdeutlicht, dass die herkömmliche Autoästethik absolut in den Hintergrund gerückt sei. »Wir mussten neue Ansätze finden«, erklärt er die Kombination aus Biologie und Technik.
Diese Ansätze haben Köhl und Entwicklungs-Ingenieur Dieter Gürtler an einer für Autobauer eher ungewöhnlichen Stätte gefunden. Sie waren im Stuttgarter Naturkundemuseum. »Wir haben uns Formen und Strukturen von Fischen, Vögeln und sogar Wasserkäfern angeschaut. Ein flacher Bauch und möglichst ideales Verhältnis von Länge zu Volumen war dabei wichtig. Letztlich waren 20 bis 30 Fischarten in der engeren Auswahl.« Gürtler schmunzelt noch heute über die erstaunten Gesichter der Fischforscher, als sich die Mercedes-Entwickler nach ihren umfangreichen Studien für den Kofferfisch entschieden. »Die Naturexperten hatten uns Delphine oder auch Haie anempfohlen. Aufgrund der Zigarrenform hätten sie die geringsten Luftwiderstandsbeiwerte.« Doch schmal und lang passte nun so gar nicht ins Konzept der Mercedes-Entwickler. »Da hätten wir zwei Passagiere hintereinander sitzend untergebracht. Wir aber wollten vier Insassen Platz bieten. Da bot sich die Form des Kofferfischs bestens an.«
Das erste originalgetreue Modell des Flossenträgers überraschte wenig später im Windkanal mit einem schier unglaublichen Wert von 0,06 CW. »Dabei hatten die Fischforscher immer wieder erklärt, der Kofferfisch schwimme nur langsam in Korallenriffen und habe deshalb überhaupt keinen Grund gehabt, sich im Laufe der Jahrhunderte stromlinienförmig zu entwickeln.« Falsch, wie sich nun herausstellte. Nach Ansicht von Gürtler müssten Lehrbücher in diesem Punkt umgeschrieben werden.
Für die Entwicklung des Bionic Cars indes war das Wissen um den geringen Luftwiderstandsbeiwert sowie die Tatsache, dass sich der Kofferfisch aufgrund seiner Körperform in der Strömung selbst stabilisiert, ein Meilenstein. »Mit diesem Wissen vor Augen haben wir uns bei der Konzeption konsequent auf die Vorgaben der Natur eingelassen und sie umgesetzt«, sagt Designer Köhl. Das erste nach dem Vorbild des Tieres entwickelte Automodell im Maßstab 1:4 schaffte es auf den sensationellen CW-Wert von 0,095. Das fahrfertige Auto bringt es immer noch auf einen Wert von 0,19. Bei herkömmlichen Autos freut man sich über Werte, die unter 0,3 liegen.
Technische Grundlage des Bionic Cars ist die A-Klasse. Die Betonung liegt dabei auf Grundlage. Denn auch beim Rohbau der Karosserie haben die Entwickler der Natur ganz genau auf die Finger geschaut. Konkret geht es um das Knochenwachstum der Säugetiere. Deren Knochen sind oftmals im Inneren nicht massiv, sondern bestehen aus feinsten Verstrebungen, die zwischen den unterschiedlichsten Hohlräumen für Stabilität sorgen. Obwohl filigran konzipiert, halten diese Verbindungen größte Belastungen aus. Diese Leichtbauweise der Natur heißt in der Technikersprache SKO (Soft Kill Option) und bedeutet, dass alles, was keine Last trägt, entfernt wird. Die Stabilität und Festigkeit ist dennoch garantiert.
Das zeigt sich auch während der Fahrt mit dem Kofferfisch auf Rädern. Selbst auf der Rüttelstrecke des Testparcours von Mercedes in Stuttgart knackt und klappert nichts im Auto. Alles wirkt geschmeidig.
Ein Eindruck, der sich im Passagierabteil fortsetzt. Die verwendeten Materialien tragen dazu ebenso bei wie die Formen, die das »Fisch-Thema« immer wieder unaufdringlich und verhalten aufnehmen. Beispielsweise ist im Armaturenträger ansatzweise eine Fisch-Form erkennbar und die Türen sind mit einem Schuppen-ähnlichen Kunststoff verkleidet. Die vielen Glasflächen - die Frontscheibe zieht sich weit ins Dach hinein (kleines Bild oben) - sorgen für ein enormes Raumgefühl in dieser einem Fisch nachempfundenen Studie, die aber auch tatsächlich allen Passagieren viel Platz bietet.
Klasse gelöst hat das Bionic Car-Team die Frage der Außenspiegel. Winzige Kameras sind wie zwei Kiemen rechts und links oberhalb der Türen in die Karosserie integriert. Sie übertragen das Verkehrs-Geschehen neben und hinter dem Auto auf zwei kleine Bildschirme links vorne im Holm und mittig im Armaturenbrett. »Damit vermeiden wir Luftwiderstand und Windgeräusche«, erklärt Köhl, wohl wissend, dass er damit die größten Sorgen der Designer bei herkömmlichen Autos in diesem Bereich anspricht.
Wie bei einem Bionic Car nicht anders zu erwarten, legten die Entwickler bei der Antriebstechnik das Hauptaugenmerk auf Umweltverträglichkeit. »Wir haben einen 140 PS starken Dieselmotor aus der Mercedes-Serie mit der neuen SCR-Technologie (Selective Catalytic Reduction) ausgestattet«, sagt Ingenieur Ralph Hettich. »Kernstück dabei ist ein Katalysator, der Harnstoff zur Umwandlung der Stickoxide nutzt.« Je nach Motorbetrieb wird dazu eine genau dosierte Menge des so genannten »AdBlue« in die Abgasanlage gespritzt. Die Stickoxide werden so in unschädlichen Stickstoff und Wasser umgewandelt. Das Ergebnis ist nach Mercedes-Angaben eine um bis zu 80-prozentige Verringerung der Stickoxid-Emissionen. Das System soll übrigens schon 2007 in der E-Klasse als »Bluetec-Technologie« auf dem US-Markt (2008 Deutschland) eingeführt werden.
Mit dieser Erklärung beantwortet Dieter Gürtler auch gleich die Frage nach einem möglichen Serieneinsatz des Bionic Cars. »So, wie es jetzt aussieht, wird das Auto vermutlich nie auf die Straße kommen. Doch die Grundidee ist bei uns in der Diskussion für eine spätere Serie.« Fest stehe jedoch, dass viele Teilbereiche wie Antrieb oder Softkill entweder schon bald in Serienfahrzeugen Einzug halten oder bereits umgesetzt wurden.
Mindestens ebenso wichtig ist für Steffen Köhl die Botschaft, die das Bionic Car transportiert: »Wir befassen uns intensiv mit dem Zusammenspiel von Biologie und Technik.« Wolfgang Schäffer

Artikel vom 17.06.2006