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Wenn zappelige Beine den Schlaf rauben

»Restless Legs« quälen vier Millionen Deutsche - Clarenbach: Therapie ist möglich

Von Sabine Schulze
Bielefeld (sas). Unruhige, zappelige Beine? Die Vorstellung finden all' jene komisch, die nicht darunter leiden. Die anderen aber, immerhin zwölf Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer in Deutschland, erleben das Phänomen der »restless legs«, der ruhelosen Beine, als Qual. »Wann auch immer sie zur Ruhe kommen, ob morgens in der Kirche, abends im Konzert oder nachts im Bett: Sie spüren ein Stechen, Beißen, Reißen, Brennen oder Jucken in den Beinen, dazu den Drang, sich zu bewegen«, erklärt Prof. Dr. Peter Clarenbach.

Der Chefarzt der Neurologischen Klinik im Johannesstift, Ev. Krankenhaus Bielefeld, kennt das Krankheitsbild genau. Nicht selten stellt er in seinem Schlaflabor die Diagnose. Soeben hat er auch ein Buch über »Die unruhigen Beine« geschrieben.
Im Unterschied zu anderen Beinschmerzen - ob sie durch eine Venenschwäche, arterielle Durchblutungsstörungen, eine Schädigung der Beinnerven oder Osteoporose ausgelöst sind - verschwinden die Beschwerden beim Restless Legs Syndrom sowie der Mensch sich bewegt. Einschlafstörungen haben fast alle Betroffenen, so mancher zappelt aber die ganze Nacht im Bett herum, bis er in den frühen Morgenstunden, wenn die Singvögel schon den Tag begrüßen, endlich erschöpft in den Schlaf fällt. Leistungsfähig ist danach kaum jemand.
»Wir wissen heute, dass es bei mehr als 50 Prozent der Patienten die 'restless legs' schon in der Familie gegeben hat«, sagt Clarenbach. Diese Patienten sind völlig frei von jedweder Pathologie: Reflexe und Sensibilität sind normal. Aber: Bei einer funktionellen Kernspintomographie findet man im roten Kern des Hirnstammes, im nucleus ruber, Aktivität. »Ebenso muss die Bahn vom Zwischenhirn ins Rückenmark einen Webfehler haben.« In jüngster Zeit haben die Forscher zudem eine Störung des Eisenstoffwechsels im Gehirn im Visier.
Bei anderen Patienten gehen die unruhigen Beine mit typischen Erkrankungen einher - weswegen das Syndrom im Alter eher auftritt als in der Jugend: mit Schädigungen des Rückenmarks, der Nerven oder der Nervenwurzeln, mit Nierenschwäche, Blutarmut, Eisenmangel, Schilddrüsenerkrankungen oder schwerem Rheuma. Dann gilt es, die Grunderkrankungen zu finden. »Ist eine schwere Anämie ursächlich, kann man sie gut ausgleichen. Frauen scheinen die unruhigen Beine auch oft in der Schwangerschaft zu erwerben: Je mehr Kinder sie haben, desto größer ist das Risiko.
Die Diagnose »restless legs«, so Clarenbach, sei leicht zu treffen. »Es genügt eigentlich die Beantwortung von vier Schlüssel- und einigen Zusatzfragen.« Sie klären den Bewegungsdrang ab, fragen danach, ob die Beschwerden in Ruhe auftreten, durch Bewegung verschwinden und am Abend ausgeprägter sind als morgens.
Obgleich die restless legs eine gut erforschte neurologische Erkrankung seien und obgleich die Diagnose verhältnismäßig leicht sei, kritisiert Clarenbach, werde die Krankheit auch von den Medizinern oft nicht ernst genommen. »Das ist gelebte Psychologie: Ohne Laborbild und Röntgenaufnahme kann das doch nicht mehr sein als eine kleine Depression oder Befindlichkeitsstörung.« Eine Befindlichkeitsstörung, die im Extremfall aber zum Selbstmord führt.
Dabei, ergänzt der Neurologe, könnte seine Zunft harte Fakten liefern - auch durch Untersuchungen im Schlaflabor. »Die Patienten haben typische Bewegungsmuster, heben Fuß oder Bein alle paar Sekunden.« Wenn nicht eine therapierbare Grunderkrankung die Zappelbeine verursacht, können die Betroffenen heute mit Parkinson-Medikamenten behandelt werden. »Die Nebenwirkungen halten sich sehr in Grenzen, weil die Dosen niedrig sind.« Allerdings: Die Therapie ist teuer. Und: Irgendwann helfen die Mittel nicht, sondern verschlimmern das Krankheitsbild gar. Ein Mehr ist dann kontraproduktiv. »Es bleibt dann nur, auf andere Medikamente umzusteigen.« Das Ende der Fahnenstange, verspricht Clarenbach, sei so gut wie nie erreicht. »Wir haben immer noch Möglichkeiten.«
Eine »moderne« Erkrankung sind die unruhigen Beine im Übrigen nicht: Schon 1685 beschrieb ein englischer Arzt das Phänomen. Und auch in der Literatur hat es sich niedergeschlagen - wie in Thomas Manns »Tristan«.

Artikel vom 08.06.2006