01.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Fußballer aus Leidenschaft

WM-Paten (Folge 32): Heinz Scherenschlich erinnert sich an deutsche Titel

Von Lars Rohrandt und
Bernhard Pierel (Foto)
Bielefeld (WB). Es ist der 4. Juli 1954. Deutschland steht im WM-Finale gegen Ungarn. Doch das Vereinslokal mit dem einzigen Fernseher weit und breit ist überfüllt. »Was tun?«, fragt sich der 16-jährige Heinz Scherenschlich - und auch den Wirt, der antwortet: »Erst im Hof Laubfegen, dann kannste rein.«

So war es vor 52 Jahren in Oberhausen. »Eine Mark musste ich noch zahlen und bekam dafür drei Getränke«, erinnert sich Scherenschlich, der 1975 nach Bielefeld zog, heute. »Die Stimmung, als die deutsche Mannschaft gewann, war unbeschreiblich. Alle hatten doch mit einer richtigen Klatsche gerechnet.« Statt dessen war aber der erste deutsche Titel perfekt, das Wunder geschehen.
In wenigen Tagen wird der heute 68-Jährige, der mehr als 20 Jahre auf der Bottroper Franz-Haniel-Zeche als Schlosser gearbeitet hat, wieder vor dem Fernseher sitzen. Allerdings nicht in der Kneipe, sondern mit Ehefrau Ursula im Wohnzimmer. Vielleicht sind beim deutschen Auftaktspiel gegen Costa Rica auch ein Urenkel, vier Enkel, zwei Töchter und zwei Schwiegersöhne mit dabei.
Um Eintrittskarten hat sich Scherenschlich dieses Jahr nicht bemüht: »Das ist mir zuviel Hick-Hack drum gemacht worden.« Früher, da lief das mit den Karten noch ganz anders. Von personifizierten Ticktes keine Spur. »Wenn wir in den 50er Jahren auf Schalke gegangen sind, haben sich zwei von uns Karten gekauft und diese dann durch den Zaun zurückgereicht.« Vip-Lounge? Nichts da! Auf den Bäumen in der Glückauf-Kampfbahn - da war die Faszination Fußball zu spüren.
Warum eigentlich Fußball? Was für eine Frage an einen Jung' aus dem Pütt: »Es gab nichts anderes. Fußball, Bergbau, Tauben - das war die Welt. Den Vätern und Großvätern sind wir ins Stadion und auf den Platz hinterher gerannt.« Im Ruhrgebiet, da ist Scherenschlich der Fußball eingeimpft worden. Diese Leidenschaft hat er nie wieder abgelegt.
Selbst trat Scherenschlich seit dem 15. Lebensjahr für den RSV Klosterhardt in Oberhausen an den Ball, schaffte es bis in die Landesliga, der damals vierthöchsten Spielklasse. Es folgten zwei Trainerposten, ehe er Kreisübungsleiter wurde. Als er 1974 dann als »kleiner Offizieller« in Kaiserau wegen eines B-Lizenz-Lehrgangs war, erlebte er eine Riesenüberraschung: die Ernennung zum Fifa-Beobachter. Beim WM-Spiel Brasilien gegen Zaire (3:0) in Gelsenkirchen führte er Statistik. »Als ich mit meinem Alten R6 vorfuhr, wollten die mich gar nicht auf den Parkplatz lassen.« Aber ein Fifa-Ausweis macht fast alles möglich: Mit der Rolltreppe ging es in den Vip-Raum und dann ab ans Büffet.
Schließlich bekam Scherenschlich auch eine Endspiel-Karte vom DFB. »Vor dem Münchner Olympiastadion bot mir ein Holländer 700 Mark. Das war ein Haufen Geld. Aber ich dachte mir: ÝWann erlebe ich so etwas wieder?Ü« Und es lohnte sich. Müller zum 2:1: Deutschland war zum zweiten Mal Weltmeister.
16 Jahre später, da ging Trainer Franz Beckenbauer nachdenklich über den römischen Rasen. »Das war beeindruckend. Aber von der 90er WM ist bei mir wenig hängengeblieben«, sagt Scherenschlich, der in Bielefeld lange Jahre beim TuS Ost Verantwortung trug, an den dritten und bisher letzten deutschen WM-Sieg. Und 2006? »Als Optimist glaube ich, dass Deutschland das Viertelfinale erreichen kann. Aber danach kann vieles passierenÉ«

Artikel vom 01.06.2006