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Bewunderung für die Sprachgewalt

Rüdiger Bernhardt legt zum 60. Todestag Hauptmanns neues Buch vor

Von Wolfgang Braun
Hiddensee (WB). Er schuf mit »Die Weber«, »Der Biberpelz« oder »Iphigenie in Delphi« Werke der Weltliteratur: Gerhart Hauptmann starb vor 60 Jahren am 6. Juni im Alter von 83 Jahren in Agnetendorf im Riesengebirge. In Kloster auf der Insel Hiddensee ist er beigesetzt.

Gedacht wird des Todestages im »Haus Seedorn«, dem von einer Stiftung getragenen Gerhart-Hauptmann-Haus, in dem der Dichter seit 1926 häufig lebte und arbeitete, mit Hauptmann-Festtagen (www.hiddensee.de). Der Literaturwissenschaftler, Professor Dr. Rüdiger Bernhardt stellt dabei auch seine neue Hauptmann-Biografie »Ã‰geschehen ist der Götter Ratschluss«, die unter anderem das umstrittene Verhalten Hauptmanns im Dritten Reich behandelt, vor. Bernhardt, der im vergangenen Jahr die erste wissenschaftlich fundierte Biografie des in Erwitzen bei Nieheim geborenen Dichters Peter Hille (1854 bis 1904) vorlegte, ist Vorsitzender der Hauptmann-Stiftung, die das Haus trägt. In seinem Werk, geschöpft aus jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem oft mit Goethe verglichenen Dramatiker und Romancier, widerspricht der These seines Lehrers, des renommierten Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, Hauptmann hätte insgeheim in seinem Spätwerk, der »Atridentetralogie« seinen inneren Widerstand gegen das Naziregime formuliert. Bernhardt kann nachweisen - und das tut seiner Bewunderung für die Sprachgewalt Hauptmanns und dessen dramatisches Genie keinen Abbruch - dass der Nobelpreisträger von 1912 und die geistige Symbolfigur der Weimarer Republik offenbar ein großer Bewunderer Adolf Hitlers und seiner dämonischen Rhetorik war. Die Charaktereigenschaft des unpolitischen Schriftstellers, unentschieden zu bleiben, und sein Wunsch, mit der jeweiligen herrschenden Macht im Einklang zu sein, hätten eine solche Widerstandshaltung undenkbar gemacht.
Man könne die »Iphigenie in Delphi« auch als eine dichterische Gestaltung des Grauens in der Geschichte - nicht nur des Zweiten Weltkriegs - lesen. Denn in dem Stück über die Agammenon-Tochter mit seiner Vielzahl von Menschenopfern, das ganz im Gegensatz steht zu Goethes humanistischer Bearbeitung des Iphigenie-Stoffes, waltet ein gnadenlos blutiges Schicksal.
Mit dem sozialkritischen Drama »Vor Sonnenaufgang« hatte Hauptmann 1889 dem Naturalismus, der den Menschen von seinen Erbanlagen und vom Milieu festgelegt sah, Bahn gebrochen. In seinem Spätwerk verabsolutierte Hauptmann diesen Determinismus zu einem allumfassenden Schicksalsglauben, der der Willensfreiheit des Einzelnen keine Chance mehr einräumt: Hauptmann, ein Ärgernis, mit dem es sich wieder zu beschäftigen lohnt.
Rüdiger Bernhardt:
„Égeschehen ist der Götter Ratschluss«. Projekte-Verlag, 179 Seiten, 9,75 Euro

Artikel vom 01.06.2006