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Wanderung, Flucht nach Europa und Entwicklungshilfe gehören ganz eng zusammen.

Leitartikel
Flucht nach Europa

»Schotten dicht«
reicht nicht


Von Jürgen Liminski
Wenn die Staats- und Regierungschefs nach Pfingsten zu ihrem EU-Gipfel zusammenkommen, werden sie Erleuchtung brauchen. Nicht wegen der üblichen Alltagsprobleme der EU, sondern wegen der künftigen sozio-kulturellen Zusammensetzung der Gemeinschaft. Das alternative und naive Multi-Kulti-Denken ist an seine Grenzen gelangt.
Nach den blutigen Stürmen auf die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko, nach den mörderischen Überfahrten durch das Mittelmeer nach Sizilien und Süditalien sind nun die Kanarischen Inseln das Einfallstor der Flüchtlinge nach Europa geworden. Aus dem Osten Europas hat man weniger zu befürchten. Dort sind die Geburtenzahlen auf ein Niveau gefallen, das noch unter dem EU-Durchschnitt liegt, der Druck aus diesen Ländern lässt trotz schwieriger wirtschaftlicher Situationen stark nach. Aber im Süden, in Afrika nimmt er stark zu. Hier müssen sich die Chefs in Europa etwas einfallen lassen, der bloße Festungsgedanke genügt nicht mehr. Nach den Kanaren wird es ein anderes Leck geben, durch das Flüchtlingswellen nach Europa hineinschwappen. Die Frage ist politischer Natur.
In diesem Sinn ist es ein Fortschritt, dass die EU zum ersten Mal eine gemeinsame Aktion mehrerer Mitgliedsländer und der eigenen, erst im letzten Jahr gegründeten Grenzschutz-Agentur Frontex lanciert, um die EU-Außengrenze bei Spanien abzudichten. Acht Länder sind bereit, Patrouillenboote und Flugzeuge zu den Kanarischen Inseln abzukommandieren, um die Seewege aus Mauretanien und Senegal zu den Inseln zu überwachen. Außerdem wolle man in diesen Ländern Auffanglager einrichten für die auf See aufgegriffenen illegalen Einwanderer und auch für abgewiesene Asylbewerber. Schotten dicht und Militär gegen Migranten - man mag das bedauern und man muss es bedauern, wenn es nur dabei bleibt. Diese Aktion hat nur Sinn, wenn sie begleitet wird von einer gemeinsamen Einwanderungspolitik. Bliebe es bei der Schotten-dicht-Politik wäre es ein Armutszeugnis selbst für ein rest-christliches Europa.
Eine Lösung ist dringend, für Deutschland mehr noch als für alle anderen. Deutschland ist weltweit mit Abstand das Land mit den prozentual meisten Einwanderern. Vermutlich wird man zu einer Einwanderungspolitik kommen, wie sie Kanada, die USA oder Australien betreiben. Das aber ist nicht viel mehr als eine neue Form von Kolonialismus, man filtert sich die wirtschaftlich Brauchbaren aus, die dann ihren Ländern fehlen. Um die Migrationsströme der Zukunft zu steuern, muss man zur Quelle. Wanderung und Entwicklungshilfe bilden eine Einheit. 150 Milliarden US-Dollar schicken die Migranten nach UN-Angaben pro Jahr nach hause - dreimal so viel wie die staatliche Entwicklungshilfe. Schon das ist peinlich für Europa. Hier muss man ansetzen. Die EU-Präsidentschaft Deutschlands 2007 wäre die letzte Chance, bevor erste Dämme brechen.

Artikel vom 30.05.2006