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WM-Referee Markus Merk im Gespräch

Nach seiner Pfeife tanzt die Welt

22 Schiedsrichter hat die FIFA für die WM nominiert. Dr. Markus Merk zählt zu den Auserwählten. Wie es Merk aus den Tiefen des Pfälzer Waldes auf die größte Sportbühne der Welt schaffte, erzählt Deutschlands einziger WM-Referee im Interview.



Mit 15 Jahren waren Sie schon als Linienrichter in der Landesliga im Einsatz. Und das bei beinharten Derbys im Pfälzer Wald. Hatten Ihre Eltern manchmal Angst um Sie, Herr Merk?Markus Merk: Und wie, besonders für meine Mutter war es eine schwere Zeit. Wenn ich nicht das Mofa genommen habe, hat sie mich zu den Spielen gefahren. Das Auto hat sie immer in Fahrtrichtung geparkt.

Und Ihr Vater?Merk: Mein Vater ist seit 1963 Schiedsrichterbetreuer. Er wusste, dass das für seinen Sohn eine Ochsentour wird. Es hat ihm einen Knacks gegeben, als ich als 14-Jähriger aufgehört habe, Fußball zu spielen. Vor dem Schiedsrichter-Job hatte er mich gewarnt. Er wollte mich schützen. Für mich war's ein Ansporn, es ihm zu beweisen. Heute ist er stolz auf mich.

Auch deshalb, weil Sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn 40 000 Menschen verbal auf Sie einprügeln?Merk: Die Anonymität der Masse macht das für einen Schiedsrichter weniger schlimm, als viele denken. Für mich sind die wahren Helden darum die, die sich auf den Kreisligaplätzen von Angesicht zu Angesicht beleidigen lassen.

Wenn Sie internationale Spiele leiten, werden Sie viele Beleidigungen gar nicht verstehen. Wie viele Sprachen sprechen Sie? Merk: Deutsch, Französisch, Anfang der 90er habe ich Italienisch gelernt. Ich habe mal das Europapokalspiel Lyon gegen Juventus Turin geleitet. Die Spieler haben schnell gemerkt, dass ich mich mit ihnen verständigen kann. Danach hatte ich permanent Diskussionen mit denen. Es ist nicht immer von Vorteil, wenn man viel weiß. Pfälzisch ist auf dem Platz immer eine gute Sprache.

Zahnarzt und Schiedsrichter: Ihr Bedürfnis, gemocht zu werden, scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein, oder?Merk: Viele haben von Markus Merk das Bild von dem Typen, mit dem man nicht gerne ein Bier trinken geht. Natürlich kann man nicht everybody's darling sein. Aber die Leute sind schon auch froh, wenn ihnen beim Zahnarzt geholfen wird.

Ist es Ihnen eigentlich schwer gefallen, den Zahnarztberuf aufzugeben und die Praxis zu verkaufen?Merk: Ich wusste schon im Studium, dass ich nicht am Stuhl stehe, bis ich 60 bin. Aber mehr Zeit fürs Schiedsrichtern zu haben, ist nicht der Grund, weswegen ich die Praxis aufgegeben habe. Es war meine Frau Birgit, die gesagt hat: Markus, du musst da raus, du musst etwas bewegen.

Also haben Sie sich Hilfsprojekten in der dritten Welt gewidmet. Warum in Indien?Merk: Ich bin zehn Jahre lang Messdiener gewesen. Ich fand's jedes Mal hoch interessant, wenn Leute aus der Dritten Welt erzählt haben. Es war im Juli 1991 als ich plötzlich selbst gespürt habe: Markus, da ist etwas, was du nicht erledigt hast. Dann habe ich sofort in der Praxis ein, zwei Fachzeitschriften durchgeblättert und entdeckt: Aha, in Indien wird jemand gesucht, der sich mit Zähnen auskennt.

Und es gab nie einen Zweifel daran, den richtigen Weg zu gehen?Merk: Ich habe mich selbst gefragt: Soll ich jetzt hier jeden Tag schuften oder woanders einen womöglich größeren Hilfsbeitrag leisten? Die Entscheidung fiel schnell, weil ich während meiner Assistenzzeit schon einmal in Indien praktiziert hatte. Aber egal, ob ich als Bäcker oder Klempner hingegangen wäre: Der gezogene faule Zahn war ja nicht die Botschaft.

Wieviel Zeit verbringen Sie heute noch im Jahr in Indien?Merk: Die Projekte befinden sich in indischer Hand, sie laufen von selbst. Ein, zwei Mal im Jahr fliege ich dort hin. Der Bau eines Waisenhauses ist eine Lebensaufgabe, das muss einem klar sein. Indien ist für mich wie ein Buch, das man nie zuschlagen kann.

Wie lautet das Geheimnis, mit dem Sie den Spagat zwischen der eher oberflächlichen Fußballwelt und dem schonungslos realen Leben in Indien meistern? Merk: Es gelingt mir inzwischen gut, die Doppelpässe zu spielen zwischen diesen gegensätzlichen Welten. Anfangs war es manchmal schwer, sich umzustellen. Ich war in Indien, und zwei Tage später streiten sich zwei Fußballprofis um einen Einwurf an der Mittellinie. Meine Frau sagt: Es ist deine Stärke, dass du in Sekundenschnelle den Hebel umlegen kannst. Indien hat mir geholfen, die Geschehnisse auf dem Fußballplatz gelassener zu sehen.

Ihr großes Hobby, das Schiedsrichtern, hat Sie sehr populär und wohlhabend gemacht.Merk: Ja, aber daheim wollte ich immer für alle der Markus bleiben. Ich habe als Zahnarzt nie eine Kunststofffüllung abgerechnet. Das war mir zu doof. Aber ich glaube, das wäre nicht lange gut gegangen. Meine Familie ist sehr glücklich. Reichtum bedeutet, dass man auf vieles verzichten kann.

Sie gelten als Saubermann. Über das Familienleben mit Ihrer Frau und Ihrem Sohn Benedikt ist nie etwas Negatives oder gar Skandalöses an die Öffentlichkeit gedrungen. Weil nichts zu finden wäre?Merk: Wir leben in einer Negativgesellschaft. Glauben Sie nicht, dass nicht viele suchen würden. Es gibt immer und überall Neider.

Ihr Berufskollege Herbert Fandel beneidet Sie sicher darum, bei der WM pfeifen zu dürfen. Merk: Aber er gönnt es mir auch. Es hat noch nie einen deutschen Schiedsrichter gegeben, der zwei Mal bei einer WM oder EM gepfiffen hat.  Das ist eine ganz besondere Auszeichnung für mich.

2004 durften Sie das EM-Endspiel leiten. Viel mehr geht nicht. Hatten Sie überlegt, danach aufzuhören?Merk: Ja, aber ich habe gespürt: Das Feuer brennt noch. Der Grund ist die WM im eigenen Land.

Träumen Sie von der Leitung des Endspiels?Merk: Dafür dürfte Deutschland das Finale nicht erreichen. Das wäre schade, denn die deutsche Jugend braucht Vorbilder. Eine WM-Partie auf dem Betzenberg zu leiten, das wäre mein persönliches Endspiel. Ich bin 300 Schritte vom Stadion entfernt aufgewachsen. Weil der FCK mein Verein ist, darf ich in der Bundesliga dort keine Spiele leiten. Bei der Weltmeisterschaft dürfte ich schon. Der Kreis würde sich schließen.

Die FIFA hat entschieden, dass nationale Teams, also Schieds- und Linienrichter aus einem Land, oder aber Teams einer Konföderation bei der WM eingesetzt werden. Ein Vorteil?Merk: Absolut. Meine beiden Assistenten Christian Schräer und Jan-Hendrik Salver sehe ich in heißen Phasen öfter als meine Familie. Wir sind eingespielt. Aber ich muss dazu sagen, dass ich noch nie mit einem Assistenten gearbeitet habe, über den ich hinterher gesagt habe: Das ging nicht.

Der Chip im Ball kommt auch bei dieser WM nicht zum Einsatz. Bedauern Sie das?Merk: Wir Schiedsrichter wollten schon immer den Chip im Ball. Seit 1969 spazieren wir auf dem Mond herum und schaffen es nicht, den Chip funktionsfähig zu bekommen. Die Technik hat versagt. Aber so wie jeder Stürmer ins Tor treffen möchte, möchte jeder Schiedsrichter die richtige Entscheidung treffen.

Das Interview führte
Dirk Schuster

Artikel vom 02.06.2006