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Den Durchblick finden auf der »Baustelle Gerechtigkeit«

1000 Angebote beim Katholikentag - Merkel diskutiert mit der Jungend

Von Reinhard Brockmann
Saarbrücken (WB). Selbstbedienung beim Katholikentag in Saarbrücken: Alle können alles wahrnehmen unter dem Leitwort »Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht«. Ein Rundgang zeigt, die verwirrende Vielfalt findet damit eine Klammer.

Er macht neugierig, der Bretterzaun an der »Baustelle Gerechtigkeit - wir bauen mit«, aufgestellt vom Diözesankomitee der 1,7 Millionen Laien im Erzbistum Paderborn. An die Bohlen sind Zettel geheftet: »Gegen Frauenhandel«, »für Jugendarbeit«, »nicht ohne Gottes Segen«. Ein Zwölfjähriger schreibt: »Kreuze und christliche Symbole an öffentlichen Plätzen!« Überraschenden Durchblick erlauben kleine Aussparungen im Bauzaun. Da muss Weihbischof Manfred Grothe ganz genau hinsehen: »Was erlaubt der Pastor?« Zur Orientierung hält Hans-Georg Hunstig das Arbeitsprogramm »Auf gutem Grund unterwegs...« bereit.
Nebenan ist eben der Gastgeber aller 40 000 Katholikentagsbesucher, Bischof Reinhard Marx, eingetroffen. Man kennt sich, man duzt sich. Die mannshohe Münzpräge hat es dem Trierer Bischof angetan. Kraftvoll dreht er am Rad bei Stephan Winzek und bekommt wie jeder Besucher seine eigene Liborius-Medaille. »So begegnen wir dem Defizit«, gibt Stefan Burger vom Generalvikariat dem Ex-Paderborner mit auf dem weiteren Weg durch die Messehallen.
Vertreter aus dem Erzbistum finden sich bei einer ganzen Reihe der 1000 Veranstaltungen, unter den Pilgern und an den Messeständen. Michael Bogedain informiert bei www.pfarrbriefservice.de Pfarrer und Laien, die professionelle Bild- und Textangebote für ihre Gemeinde vermissen. 5000 katholische Pfarrbriefe gibt es. Täglich 1800 Zugriffe auf der Internetangebot zeigen, dass der kostenlose Service gefragt ist.
Ob katholischer oder evangelischer Kirchentag, Weltjugendtreffen oder, wie in Saarbrücken als Vision beschrieben, ein europäischer ökumenischer Kirchentag: Alle Treffen bieten eine derartige Fülle, dass Besucher die Qual der Wahl oft durch Ausprobieren lösen. So auch die Gruppe vom BDKJ Höxter, die erst einmal in kleinen Teams das Dickicht aus politischer Debatte, Gebet und Bibelarbeit zu erkundet. Auch Ministranten aus Lippe und die Vertreter des Europäischen Laienforums lösen das kaum anders.
Hubert Tintelott, der Leiter des deutschen Komitees aus Bad Lippspringe, hört rein bei »Den europäischen Sozialstaat neu denken«. Hier fordert Karl-Josef Laumann radikal Gerechtigkeit für Arbeitnehmer ein. Der Christdemokrat spricht von hemmungslosem Kapitalismus und verlangt unter großem Beifall, dass Unternehmen wieder Grundlagen schaffen, auf denen Familien bei verlässlichen Arbeitszeiten auch noch für sich selbst da sein können.
Nur noch 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte könnten einfach nicht mehr die Gesundheitskosten von 74 Millionen gesetzlich Versicherten aufbringen, lautet seine These.
Zum politischen kommt das missionarische Sendungsbewusstsein. Wie einst die Jünger sollen Katholiken ausschwärmen und für die Gerechtigkeit Gottes werben, predigt der aus Borchen (Kreis Paderborn) stammende Bischof Franz-Josef Bode Gesellschaftliches Engagement fordert Bischof Marx beim zweiten Himmelfahrts-Gottesdienst mit zusammen 18 000 Gläubigen. »Was steht Ihr da und schaut zum Himmel hinauf« zitiert das Evangelium zwei Engel. Marx interpretiert das Wort als festen Blick auf die Erde. Hier gilt es zu streiten - »dass jedem Menschen das gegeben werde, was seiner Würde entspricht«. Sich einzumischen in die Herausforderungen der Welt, verlangt Marx. Das ist für ein Hochamt - auch im Saarland - sehr politisch.
»Das europäische Friedensprojekt ist mehr als Euro und offene Grenzen«, sagt auf dem anschließenden Podium mit der Bundeskanzlerin und sechs jungen Europäern der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Hans Joachim Meyer.
Agatha (27) beschreibt wie Polen seit dem 1. Mai 2004 spürt, endlich in Europa mitreden zu können. Angela Merkel hörtÕs mit Wohlgefallen, preist die europäische Wertegemeinschaft und bedauert, dass ein Gottesbezug keine Aufnahme in die europäische Verfassung fand. Verantwortung ist für sie auch die Verpflichtung, Europa nicht zu überdehnen. Sie will alte Richtlinien abschaffen, den Mitgliedsstaaten Zuständigkeit zurückgeben.
Matés Brynn aus Tschechien fragt nach dem Stellenwert europäischer Grundwerte und fürchtet, zu viel Christliches grenze Muslime vom Balkan und aus der Türkei aus. Kein Gegensatz für die Kanzlerin, es komme auf die gerechte Gewichtung an: So wie es Türken mit CDU-Parteibuch und die Trennung von Staat und Kirche gebe, müssten alle ihre Wurzeln kennen. Zu uns gehörten Christentum, Judentum, Aufklärung und Eintreten für Gerechtigkeit.
Da ist er wieder - der roten Faden, der Saarbrücken in diesen Tagen durchzieht.

Artikel vom 27.05.2006