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Gruppe f: Brasilien

Schlechte Zeiten für die Herausforderer

Vor jedem Anpfiff das gleiche Spiel: Die Brasilianer beten. Auch die besten Fußballer der Welt wollen auf göttlichen Beistand nicht verzichten. Dass sie bei der WM eine Hauptrolle spielen, scheint so sicher wie das Amen in der Kirche.


Das Ritual fällt niemals aus. Betend bereiten sich die Ball-Besessenen auf ihre anschließende Aufgabe vor. Kein Wunder: In Brasilien ist dieser Sport Religion. Am Zuckerhut zieht das Spiel alle in den Ball-Bann. Die Fans vergöttern Ronaldinho und Co., während der WM herrscht Ausnahmezustand.
Anbetungswürdig war der brasilianische Fußball fast immer. Aber für Schönheit wurde auch ein hoher Preis gezahlt: Gar nicht gerne denken die Brasilianer an die deprimierende Durststrecke zwischen 1970 und 1994 zurück. Eine titellose Epoche, die sich elendig in die Länge zog. Dabei standen auch in diesen Mannschaften immer wieder große Künstler. In den USA half schließlich ein Mann mit, den Fluch zu besiegen, der auch die WM-Mission 2006 anführt: Carlos Alberto Parreira.
Ausgerechnet unter Parreira, der nicht einmal eine eigene Profi-Karriere vorzuweisen hat, gelang 1994 die WM-Wende. Der einstige Konditionstrainer der Nationalmannschaft, der beim letzten Coup 1970 noch Pelé den letzten Drill verpasst hatte, sorgte in seiner neuen Rolle als Fußballlehrer für ein Umdenken: weniger Spektakel, mehr Erfolg. Mit viel Skepsis beäugt, zähmte er den Dribbel-Drang der Samba-Kicker etwas und passte das Spiel der Selecao an europäische Maßstäbe an. Die Wiederbelebung mündete im Finalsieg gegen Italien.
Seitdem läuft es wieder rund auf den WM-Bühnen der Welt: In Frankreich musste sich Brasilien 1998 erst im Endspiel dem Gastgeber beugen. Vier Jahre später behielt das Künstler-Kollektiv gegen Deutschland die Oberhand. In diesen Tagen träumt Brasilien vom vierten Finale in Folge -Ê und dem sechsten Titel nach 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002. Ronaldinho hat schon versprochen: »Es wird Brasiliens WM.«
Der 63-jährige Parreira hat offenbar keine Probleme damit, Superstars wie Ronaldinho und Ronaldo, Kaka und Roberto Carlos unter einen Hut zu bringen. Für Skandale sind diese Gute-Laune-Brasilianer nicht gut. Sie wollen nur für positive Schlagzeilen sorgen. Das war auch das Motto im Trainingslager in der Schweiz. Harmonie als weiterer Titel-Trumpf. Selbst die Geschichten über den Sommer-Speck von Ronaldo, der während seiner sechswöchigen Verletzungspause gut gelebt hat, sorgt nicht für Unruhe. Die Selecao hat da ein dickes Fell. Parreira wischte die drohende Diskussion vom Tisch, indem er Ronaldo einen Stammplatz bei der WM versprach. Dort soll »Il Fenomeno« seinen neuen Tor-Rekord aufstellen. Mit drei Treffern kann er Gerd Müller (14 WM-Tore) in der Bestenliste überholen.
Rekordverdächtig sind diese Brasilianer allemal. Kaum einer, der sie nicht auf der Rechnung hat. Die Offensive ist furchteinflößend. Parreira spricht von seinem »magischen Quartett«, hinter Ronaldo und Adriano kurbeln Kaka und Weltfußballer Ronaldinho das Spiel an. Um den Abschirmdienst kümmern sich ebenfalls gestandene Größen: Emerson und Zé Roberto bilden das defensive Parreira-Paket. Zauberhafte Zerstörer.
Die Hoffnung der Herausforderer: Eine WM ist lang, und der Fußball unberechenbar. Dazu kommt die Favoritenbürde: »Es wird nicht einfach, weil wir die Gejagten sind«, sagt Ronaldinho. Ein Problem kann die alternde Abwehr werden: Die Außenverteidiger Roberto Carlos (33) und Kapitän Cafu (36) sind in die Jahre gekommen. Oder macht das Wetter der Selecao einen Strich durch die Rechnung? »Regen würde unser Vorhaben erschweren, weil wir vom Kurzpassspiel leben«, so Zé Roberto. Den Gegnern wäre jede Wolke willkommen.

Ein Beitrag von
Alexander Grohmann

Artikel vom 02.06.2006