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Und was sie vor wenigen Augenblicken gesagt oder fast gesagt hatte, hing bleiern im Zimmer, unsichtbar und geruchlos wie Asbest. Nachdem wir wieder eine Zeit lang stumm dagesessen hatten, sagte ich: »Erinnerst du dich noch an den Abend der Schulaufführung, Bel?«
»Mmm?«, brummte sie abwesend.
»Als ihr den Kirschgarten gespielt habt und du deinen Text vergessen hattest. Du hattest einen totalen Blackout, weißt du noch?«
»Natürlich weiß ich das noch«, sagte sie.
»Als ich Frank davon erzählt habe, ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich dich nie gefragt habe, wie das passieren konnte.«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich hatte wohl einfach meinen Text nicht gut genug gelernt.«
»Dann hattest du den Riesenkrach mit Mutter«, sagte ich. »Und am nächsten Tag bist du krank geworden. Aber wir haben nie darüber geredet.«
Sie schaute mich komisch an. »Ich hab eine bessere Idee, Charles«, sagte sie und stand auf. »Geh schlafen. Trink dein Glas aus und geh ins Bett. Morgen hast du alles vergessen.«
»Aber du hast doch gesagt, wir sollen uns erinnern.«
Der Wodka bewirkte, dass mir die Luft schwül und samtweich wie ein Kissen vorkam. Am Himmel war wieder ein silbernes Funkeln zu sehen, das aber sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde. Plötzlich sah ich Gene Tierney vor mir, wie sie nach einer Elektroschockbehandlung in ihrem Krankenhausbett aufwacht und nicht weiß, wo oder wer sie ist.
»Du weißt, was passiert ist«, sagte sie leise.
»Ich willÕs von dir hören.«

S
ie nuckelte nachdenklich an einem Fingerknöchel. Sie schaute zur Uhr, dann auf die verglimmende Asche im Kamin. »Na ja, ist eigentlich auch egal«, sagte sie. »Du glaubst es mir ja sowieso nicht.« Sie nahm die Azaleen wieder in die Hand und ging zum Vorhang am Fenster, wobei sie sich mit dem kleinen Strauß rhythmisch auf die Handfläche schlug.

Aber das war nicht in der Nacht, als das alles passiert ist«, sagte sie. »Es war ein paar Tage früher. Damit wir unseren Text lernen konnten, hatten wir die ganze Woche nachmittags keinen Unterricht. Es muss Mittwoch gewesen sein, weil das Hausmädchen nicht da war. Ich war in meinem Zimmer und bin ein paar Szenen durchgegangen, und da hab ich etwas gehört É ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. In meiner Erinnerung hört es sich einfach wie É wie Ärger an. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Eigentlich hätte gar keiner im Haus sein sollen. Ich bin zur Tür, hab aufgemacht, und da hat dieses Mädchen gestanden, splitternackt. Stand einfach da.

Es war wie im Traum. Sie hatte blaue Lidschatten und hat mich angestarrt, aber ich glaube nicht, dass sie mich wahrgenommen hat. Ich glaube nicht, dass sie wusste, wo sie war. Ihre Augen waren nur leer. Wir haben vielleicht eine Minute so dagestanden und uns angeschaut, und dann ist Vater um die Ecke gekommen, und sie ist die Treppe runtergeschossen. Und ich bin stehen geblieben und hab jetzt Vater angeschaut. Ich glaube, ich hab was gesagt wie ÝHey, was ist denn hier los?Ü oder so, und er hat mich am Arm gepackt und gesagt: ÝEs ist ein Unfall passiert, Christabel, ich brauche jetzt deine Hilfe.Ü Immer wieder hat er das gesagt. Er hat mich einfach nicht gehen lassen. Natürlich hatte es gar keinen Unfall gegeben. Aber was auch passiert war, das Mädchen war total hysterisch, sie hat ihn nicht an sich rankommen lassen. Also musste ich losziehen und sie suchen. Sie war im Wirtschaftsraum, hatte sich hinter den Trockner gequetscht, in den Spalt, wo Mrs P immer das Bügelbrett hinstellt. Als ich sie gesehen hab, Charles, da wollte ich mich sofort zu ihr setzen, sie hat so klein und dünn ausgesehen, völlig wehrlos, wie ein kleines Tier. Alles, was sie am Körper hatte, war dieser Lidschatten, ein dunkelblauer Lidschatten. Ich musste an die gruseligen ägyptischen Göttinnen denken, an Isis und Nephthys und die alle. Ich hab dann mit ihr geredet, hab sie ins Bad gebracht und gewaschen, und allmählich hat sie sich beruhigt und war wieder ganz okay.

Eigentlich hat ihr nichts gefehlt, sie war einfach nur ausgerastet. Sie war so blutjung. Dann ist sie wieder nach oben gegangen und hat sich angezogen, und ich hab ein Taxi gerufen. Vater hat sich nicht blicken lassen. Als sie weg war, bin ich zurück in mein Zimmer, hab mich wieder an meinen Text gesetzt, und es war, als ob nichts passiert wäre. Vater hat nichts mehr zu mir gesagt deswegen, und ich hatte nicht vor, irgendwem davon zu erzählen. Nicht unbedingt deshalb, weil ich ihn schützen wollte. Mehr, weil ich dachte, wenn ich keinem was erzähle, dann ist es auch leichter für mich, so zu tun, als wäre eigentlich gar nichts passiert. Aber natürlich musste ich doch immer dran denken. Es kam mir vor, als bekäme alles im Haus eine neue Bedeutung. Die verschlossenen Türen, die Fotografien. Manchmal bin ich in meinem Zimmer gestanden und hab gedacht, schenkt Vater die gleichen Sachen, die er mir schenkt, Sachen zum Anziehen, Schmuck, Parfüm, auch seinen É seinen Models? Kauft er am Flughafen von allen Sachen gleich drei Stück? Oder sieht er zufällig irgendwas, von dem er glaubt, dass es einem der Mädchen stehen würde É dem Mädchen, mit dem er geradeÉ« Sie machte eine schickliche Pause. Draußen wogte und donnerte die Nacht. »Und dann fing das an, dass ich mich dauernd übergeben musste. Ich konnte nichts bei mir behalten. Mutter hat gedacht, es wären die Nerven, wegen dem Stück. War es vielleicht auch, zum Teil. Und am Abend der Aufführung war sie so lieb zu mir, sie hat gesagt, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, und hat mir erzählt, dass sie nur ein bisschen älter war als ich, als sie die Varja gespielt hat. Und plötzlich kam alles aus mir raus, ich konnte nichts dagegen machen. Ich hab geweint, und alles ist nur so aus mir rausgesprudelt. Ich hab nicht darüber nachgedacht, wie sie reagieren könnte. Vielleicht hab ich auch gedacht, dass sie es wissen wollte. Ich meine, darum gehtÕs doch bei der Wahrheit, man spricht sie aus. Du weißt ja selbst, wie sie immer hinter uns her war, haltet euch gerade, steck das Hemd in die Hose, wehe, wenn ihr Äpfel aus Thompsons Garten klaut. Als ich fertig war, hat sie eine Zeit lang keinen Ton gesagt. Ich weiß noch, dass sie neben dem Spülstein gestanden hat, die Lippen zusammengepresst, und ich bin am Küchentisch gesessen in diesem lächerlichen russischen Ballkleid und hab mir gewünscht, dass sie endlich was sagt. Und als sie dann angefangen hat, hab ich mir gewünscht, dass sie wieder aufhört. Es war grauenhaft. Aber der schlimmste Vorwurf war, dass ich mir das alles ausgedacht hätte. Sie war dermaßen böse, so außer sich, dass ich Angst hatte, sie tut sich was an. Und ich hab angefangen zu glauben, dass ich mir das wirklich ausgedacht haben musste, und ich hab mich gefragt, wie ich nur so was Scheußliches hatte tun können. Und von da an war ich total durcheinander.«
Sie ging wieder quer durch den Raum zum Kamin und strich mit den Fingern über den marmornen Sims. Ich hob mein Glas an die Lippen. Es war leer, und ich griff nach der Flasche.

W
enn ich ihr nichts erzählt hätte, wäre alles bestens gewesen. Sie hatte es schon gewusst, das habe ich erst hinterher gemerkt. Jeder hatte es gewusst. So ist sie eben, die Welt der Mode. Sie holen diese vierzehnjährigen Mädchen aus ihren Elternhäusern und verwandeln sie in Fantasiegebilde; sie machen sie berühmt und reich, und im Gegenzug É na ja, wer könnte da widerstehen, mit einem veritablen Kunstwerk zu schlafen, mit einem von dir selbst erschaffenen Kunstwerk? Schätze, das ist so was wie ein droît de seigneur. Und dann wundern die sich, dass ihre Kunstwerke nach zwei Jahren magersüchtig sind und Rasierklingen schlucken. Natürlich wusste Mutter Bescheid. Ich nehme an, sie hatten sich irgendwie arrangiert. Vielleicht war es ihr auch egal, solange er diskret war. Sie wollte nur eins: dass ihr die Stadt wieder zu Füßen lag, und dass ihr wie in den guten alten Zeiten jeder die Ehre erwies. Nimm die Dinnerparty heute Abend, wie glücklich sie war. Sie hat sogar daran gedacht, Charles, dir in dem neuen Flügel ein Zimmer zu geben - wenn du nicht so ein Chaos angerichtet hättest. Aber mir hat sie nie verziehen. Ich hab die Regeln verletzt. Solange keiner plaudert, ist alles bestens. Jeder weiß Bescheid, und jeder tut so, als wüsste er nichts, so bleibt alles schön im Fluss. Sobald aber die ersten Bröckchen Wahrheit herauskommen, zerbröselt das gesamte Kunstgebilde. Und es steht viel zu viel auf dem Spiel, als dass man das zulassen dürfte. Das war es, was sie mir am Abend der Schulaufführung erklären wollte. Sie hat immer gesagt, dass eine Schauspielerin sich nicht zu sehr um die Wahrheit kümmern sollte.« Sie nahm das Wodkaglas in beide Hände und zog die Schultern hoch. »Aber ich war nie eine sonderlich gute Schauspielerin.«

S
ie hielt inne, trank ihr Glas aus und schenkte es wieder voll. Ich wollte aufstehen und etwas sagen, aber ein Gewicht drückte mir auf die Brust, und auch mit meinen Augen war irgendetwas nicht in Ordnung. Ich schien nicht mehr in der Lage zu sein, den Raum als Ganzes zu überblicken.



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.07.2006