06.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Bel, Amaurot, Droyd, die Letten É Je genauer ich hinschaute, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass - in der Häusersprache gesprochen - die Charles Hythlodays die schäbigen, überteuerten Wohnungen mit den schiefen Wänden und verpfuschter Installation waren, während die Franks dieser Welt für die prächtigen alten Landsitze mit Blick aufs Meer standen - selbst wenn die Franks Couscous für eine überkandidelte Form der Begrüßung hielten oder Stockhausen für ein schwedisches Möbelgeschäft oder - wie ich es mit eigenen Ohren als Antwort auf eine Frage Droyds gehört hatte - Donatella Versace für eine Teenage Mutant Ninja Turtle. Und mir kam der Gedanke, dass wir alle zusammen das letzte Mal glücklich gewesen waren - richtig glücklich, auch wenn uns das gar nicht bewusst gewesen war-, als Frank und Bel noch ein Paar gewesen waren.
»He É«
Keine Reaktion.
»Frank?«
»Mmmgrrhhh?«
»Weißt du was, ich hab nachgedacht. Bel ist nur sechs Monate weg. Gar nicht so lange eigentlich É Tja, und ich hab mir gedacht, also, wenn du Interesse hast, ich meine, wenn du es noch mal bei ihr versuchen willst É
»Ja, Charlie?«
»Nun ja, ich könnte ein gutes Wort einlegen für dich, wenn du willst.«

N
ie hätte ich mir träumen lassen, dass ich das mal sagen würde. Und plötzlich sah ich alles deutlich vor mir - mein Zimmer, wieder von mir in Besitz genommen; das Theater demontiert, seine Mitglieder in alle vier Winde zerstreut; Bel und ich fröhlich lachend, während Frank unaufschiebbare Arbeiten rund ums Haus erledigt; und all die aufgewirbelten Bestandteile unseres Lebens schwebten wie die Flocken in einer kleinen Schneekugel wieder auf ihre angestammten Plätze zurück.
»Auf dich, Charlie«, sagte Frank. »Du bist echt in Ordnung.«
»Ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Hätte ich eigentlich schon früher drauf kommen können É«
»Tja É«, sagte er und kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Weißt du noch É neulich, wo du gesagt hast, an anderen Bäumen, da hängen auch noch Äpfel?«
»Und?«
»Na ja, weil É Laura und ich É wir É na ja, weißt schon.«
»Was soll ich wissen?«
»Na ja, hast es ja selbst mitgekriegt, in letzter Zeit hat sie ziemlich oft reingeschaut.«
»Ich hab gedacht, das wär, weil sie so auf Heimwerken steht«, sagte ich mit schwacher Stimme.
»Macht dir doch nichts aus, oder? Hab Õn bisschen Angst gehabt, dass du selber scharf bist auf sie.«
»Ach was, überhaupt nicht«, sagte ich und sah das wieder erstandene Amaurot hinter dem Horizont im Hat-nicht-sollen-sein-Land verschwinden - zusammen mit der freigebigen Laura und ihren saftigen Melonen. »Ich freu mich für dich, alter Junge, ehrlich.«
»Auf dich, Charlie. Ich machÕs ihr einmal für dich mit, ha ha.«
»Danke«, sagte ich kraftlos.
Gnädigerweise ging sein Atmen bald in Schnarchen über. Etwa eine Stunde lang hörte ich mir das Schnarchen an, dann sagte ich mir, dass ich möglicherweise viel lieber einen Schluck trinken wolle. Also stand ich wieder auf und ging nach unten.

D
ie Leute von der Cateringfirma waren schon vor Stunden abgezogen. Alles war sauber verräumt. Der lange Tisch war seiner Dekoration beraubt, außen herum standen die Stühle in geometrisch präziser Ordnung. Die Blutspritzer von Harrys Nase waren aufgewischt, das Geschirr gespült, abgetrocknet und im Küchenschrank verstaut. Vater hing wie immer in seinem Bilderrahmen in der Halle und wartete. Ohne eigentlich genau zu wissen, warum, ging ich von Zimmer zu Zimmer, nahm Sachen in die Hand und stellte sie wieder hin. In der bläulichen Dunkelheit schien alles zu flirren. Ich kam mir ein bisschen vor wie der Prinz aus Dornröschen, der durch das schlummernde Schloss schleicht und das geheime Leben der Dinge beobachtet, während alle anderen im Zauberschlaf liegen. Dann stand ich plötzlich neben dem Barschrank und dachte mir, da ich schon mal in der Gegend sei, könnte ich mir auch einen Gimlet machen. Nach einer weiteren Sekunde des Nachdenkens sagte ich mir, warum nicht gleich einen Doppelten. Dann nahm ich die Flasche und steckte sie mir in die Tasche.

B
el war allein im Salon; sie stand am Fenster und schaute nach draußen, kein Licht brannte. »Hätte nicht gedacht, dass du so spät noch auf den Beinen bist.« Ich versuchte einen aufgeräumten, onkelhaften Ton anzuschlagen. »Das Taxi kommt um vier, hat also nicht viel Sinn, noch ins Bett zu gehen.« »Möchtest du É?« Ich hielt mein Glas hoch und klimperte mit den Eiswürfeln. Sie schaute sich um. »Dass du immer noch trinken kannst«, sagte sie mit emotionsloser Stimme und widmete sich wieder ihrer Nachtwache. »Jahrelange Übung, nehme ich an.« Ich nahm auf der Chaiselongue Platz. An einem Ende stand ein rosafarbener Schalenkoffer. Von draußen war grollender Donner zu hören, der Himmel leuchtete silbern auf. »Gott, was für eine grässliche Nacht. Ob dein Flugzeug überhaupt starten kann, wenn es so bleibt?«
»Keine Sorge, es kann starten«, sagte Bel.
»Aha.« Ich rutschte etwas nach vorn, wobei ich versuchte, mein Glas auf dem Knie zu balancieren. »Ich bin wirklich froh, dass ich dich noch erwische. Hatten ja vorhin keine Gelegenheit, uns zu verabschieden, bei dem ganzen Durcheinander und den Sanitätern überall. Mann o Mann, wenn schon ein Bluter nicht weiß, wie er eine blutig geschlagene Nase in den Griff kriegen soll.« Anscheinend hatte sie keine Meinung dazu. Ich rieb mir kläglich die Hände. »Ich wollte dich fragen, wie du dich so fühlst, ich meine wegen dieser Sache zwischen Harry und Mirela. Muss doch ein ziemlicher Schock gewesen sein.«
Die schmalen Schultern zuckten gleichgültig. »Sie heiratet ihn wegen der Staatsbürgerschaft. Wenn er das jetzt noch nicht weiß, dann wird er es bald erfahren.«
»Tja, dann ist ja gut.« Ich räusperte mich. »Ach, übrigens, das Abendessen ist doch ganz gut gelaufen, oder? Von der kleinen Auseinandersetzung mal abgesehen. Das mit der Statue zum Beispiel. Schöne Idee, fand ich.«
Zumindest das rief eine Reaktion hervor. »Eine Statue«, murmelte sie.

I
ch nahm einen kräftigen Schluck von meinem Gimlet. »Also, hör zu«, sagte ich. »Ich will gar nicht groß drum rum reden. Ob du es jetzt hören willst oder nicht, aber was zwischen mir und Mirela passiert ist, das war ein Fehler. Ich hatte Éich meine, ich war É« Ich brach ab und versuchte vergeblich, das Wortwirrwarr zu entwirren, das mein Hirn verstopfte wie ein Klumpen Silly Strings.
»Was zwischen dir und Mirela vorgefallen ist, ist ganz allein deine Sache«, sagte sie.
»Oh«, sagte ich zerknirscht. »Na gut. Ich hab mir nur ein bisschen Sorgen gemacht, dass du, na ja, wegen mir nach Russland gehst, ha ha.«
Sie schüttelte den Kopf, ließ den Vorhang am Fenster los und ging zum Tisch, wo sie eine Azalee aus dem riesigen Blumenstrauß zupfte. »Russland ist mein letzter Versuch, so ist das«, sagte sie. »Eine Spritztour durch meine Kindheitsträume, bevor ich mich niederlasse und irgendwen mit Geld heirate.« Sie umfasste den Stengel mit beiden Händen und winkte mir mit der Blume zu. »Es ist spät, Charles. Geh schlafen.«
»Du hast Recht.« Ich erhob mich mühsam von der Chaiselongue. »Also dann, bon voyage«, sagte ich, ging spontan auf sie zu und umarmte sie. Es war eine linkische, steife Umarmung, und ich spürte, wie sie sich sträubte. »Du hast Recht«, sagte ich noch einmal und verließ zögernd das Zimmer.
»Charles?« Ich hatte gerade die Tür erreicht. »Diese Marke, hast du sie dabei?«
»Was? Ach ja É richtig.« Ich kramte in meiner Tasche. »Dein Handy hab ich auch noch.«
Sie sagte, das brauche sie nicht. »Aber die Marke, die würde ich gern haben. Zur Erinnerung. Ich weiß, hört sich albern an.«

N
ein, nein, überhaupt nicht.« Ich zog die Hundemarke aus der Tasche und warf sie in die Luft wie eine Münze. Als ich sie wieder auffing, lachte ich. »Wenn ich dran denke, was du dir damals für Sorgen um den Hund gemacht, Tag und Nacht. Immer hast du dir wegen irgendwas Sorgen gemacht. Als ob das die Welt zusammenhalten würde, als ob du geglaubt hättest, dass die Welt auseinander fliegen würde, wenn du dir nur für den Bruchteil einer Sekunde keine Sorgen machen würdest. Ich hab das nie verstanden, das waren doch glückliche Zeiten damals É« Bel hatte noch ein paar Blumen aus dem Strauß gezupft und hielt sie sich jetzt wie einen Fächer vors Gesicht. »Weißt du noch?«, sagte ich kichernd. »Wir haben immer so getan, als wär deine Matratze ein Floss und die Treppe der Fluss, und dann sind wir vor den Leibeigenen geflohen. Oder wie wir Szenen aus Eugen Onegin nachgespielt haben und du immer sauer auf mich warst, weil ich deiner Meinung nach nicht traurig genug war, wenn du mir gesagt hast, dass du mich nicht liebst?« Der Fächer, den der leiseste Luftzug erzittern ließ, nickte fast unmerklich. Ich rieb mir aufgeregt das Kinn. »Weißt du noch, wie wir Vater beim Make-up-Erfinden geholfen haben? Er hat uns Plakatfarben gegeben, und du hast dich als Tinkerbell herausgeputzt und ich mich als Bela Lugosi. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.07.2006