05.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ich kicherte in mich hinein und amüsierte mich so prächtig beim Anblick des sich windenden Harry, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis ich merkte, dass ich aufgestanden war und alle mich anstarrten.
Auweia!
»Charles, verlass bitte den Raum«, sagte Mutter.
»Nein«, mischte Harry sich ein. »Wenn Sie nichts dagegen haben É Ich würde gern hören, was Charles zu sagen hat.«
Unvorhergesehenerweise hielt ich nun selbst eine Rede an die Runde. Ich wischte mir die Hände an den Hosenbeinen ab. »Nun ja É ich meine É«, stotterte ich. »Ich meine É ein Haus ist ein Haus, stimmtÕs? Ein Ort, wo Menschen leben. Ich kapier nicht, was das einundzwanzigste Jahrhundert damit zu tun haben soll. Ich kapier das nicht: Ihr klatscht ein paar neue Tapeten an die Wand, und dafür dürft ihr euch dann im Namen der Zukunft das ganze Anwesen einverleiben É wie É wie Piraten auf Zeitreise.«
»Genau, so einer ist Harry«, sagte Niall OÕBoyle glucksend. »Ich mag Männer, die die Zukunft im Visier haben. Da passiert doch alles, oder etwa nicht? Denken Sie an meine Worte. Die Vergangenheit ist eine Sache, aber die Zukunft, da wird das Geld verdient.«
»Ich will doch niemandem auf die Zehen treten«, sagte Harry. »Ich sag nur, dass man mit der Zeit gehen muss. Das ist doch in jedermanns Interesse. Du musst zugeben, dass das Haus dabei war, sich in seine Einzelteile aufzulösen, bis wir kamen.«

M
eine Gedanken schweiften zurück zu den goldenen Tagen, als es nur Bel und mich und den Barschrank gab. »War es nicht«, sagte ich.
»War es doch«, sagte er. »Die Farbe ist abgeblättert, die Fußböden waren verrottet, und deine Mutter hat uns erzählt, dass, während sie im Sanatorium war, die Bank schon die Sheriffs aufgescheucht hatte, um das Haus einzukassieren É«
»Alles ein Missverständnis«, behauptete ich störrisch.
»Und du hast versucht, den Gartenturm in die Luft zu jagen«, fuhr Harry fort und fingerte dabei an den Knöpfen seiner Anwaltsweste herum. »Ich meine É du hast versucht, deinen eigenen Tod vorzutäuschen. Warum, wenn doch alles bestens war?«
Ich war wie betäubt und hielt nach Verstärkung Ausschau. Bel starrte nach wie vor verträumt ins Leere, wie ein narkotisierter Patient im Zahnarztstuhl. Franks Oberkörper lag schon seit fünf Minuten schlaff wie eine Stoffpuppe auf dem Tisch. Alle anderen warteten auf meine Antwort, jedes ihrer Augen ein Spieß in meinem Fleisch. »Wir hatten alles im Griff«, murmelte ich.
Es trat eine kurze Verzögerung ein. Dann, unisono, brach die gesamte Tischgesellschaft in Gelächter aus. Es war ein herzliches, dröhnendes Lachen. Alle lachten mit, sogar Menschen, die ich vorher nie gesehen hatte, wie Niall OÕBoyles persönliche Assistentin, sogar Mutter, deren Unmut in der allgemeinen Fröhlichkeit verpuffte.
Harry warf humorig die Hände in die Luft, als wolle er sagen, okay, lassen wir den Fall ruhen. Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen und dachte, dass ich vielleicht wirklich nichts weiter als ein Trottel war. Alle Wahrscheinlichkeit stand dafür, das stritt ich gar nicht ab. Und doch kam es mir nicht richtig vor, dass man einen Mann so bloßstellte, und auch noch im Speisezimmer des Hauses, in dem er seine Kindertage verbracht hatte.
Und dann nahm Frank - ruckartig wie ein Roboter - seinen Kopf aus dem Teller. Mit verhangenem und doch seltsam entschlossenem Gesichtsausdruck, wie ein Mann, der auf Befehl von ganz oben handelte, stand er auf und schob seinen Stuhl zurück, ging um den Tisch herum und fing an, Harry zu würgen.
Ein paar Sekunden lang saßen wir sprachlos da und schauten zu, wie Teller flogen, Gläser zerbrachen, Stühle umkippten. Dann fingen die Mädchen an zu kreischen. Im selben Augenblick brachen die Kleindarsteller am Tischende in Hurragebrüll aus und stiegen auf ihre Stühle, um besser sehen zu können. Der Hund bellte. Mirela lief grau an. Die Geschäftsleute plusterten sich auf und fuchtelten mit den Armen herum É
»Tu was, Charles!«, schrie Mutter. »Tu doch was!«
»Na gut«, sagte ich und stand auf. »Jemand einen Brandy? Wenn ich mich nicht täusche, haben wir noch ein paar ZigarrenÉ«
»Charlie?«
»Ja, Frank?«
»Bist du wach?«
»Ja, Frank.«
»Wo sind wir, Charlie?«
»In Vaters Arbeitszimmer. Du hattest einen kleinen Aussetzer.«
»Ja, richtig. Hab dem Burschen die Fresse poliert.« Es entstand ein kurze Pause. Die Dunkelheit verhüllte die Regale voller Glasfläschchen, Zeitschriften und dickleibiger Fotomappen. »Schätze, da hat er nicht mit gerechnet.«
»Kaum.«
»Deine Mutter war mächtig sauer, was? Hat ganz schön rumgeschrien, dass sie die Bullen holt und uns einbuchten lässt und so.«
»Ach, weißt du, Mutter sagt manchmal solche Sachen.«
»Tut mir Leid, Charlie. Weiß auch nicht, wie das passiert ist. War so, als wär ich nicht mehr ganz klar im Schädel.«
Ich übte Nachsicht und ließ das unkommentiert.
»Der hat einfach nicht aufgehört mit dem Mist. Hat mich ganz irre gemacht. Konnte doch nicht einfach so zugucken, wie er dich lächerlich macht.«
Ich hustete. »Na ja, weiß nicht recht, lächerlich ist vielleicht ein bisschen übertrieben É«
»Ich wollte eben nicht, dass er so tut, als wärst du so Õn Penner, der nicht weiß, wo sein Arsch und wo sein Ellbogen hängt.«
»Tja É danke, alter Junge, danke.«
Schweigen.
»Charlie?«
»Schlaf jetzt endlich.«
»Kalt hier drin É Charlie? É GibtÕs hier eigentlich Gespenster? Jede Wette, in soÕm alten Kasten wie dem hier gibtÕs haufenweise Gespenster.« Das Klappbett quietschte gequält. »Genau wie in dem Stück da von Bel, wo diese ganzen Gesichter aus den Scheißbäumen rausgucken und dich anstarren und so Õn Scheiß É«
»Hör endlich auf, hier gibt es keine Gespenster, okay?«, sagte ich gereizt. »Wenn es welche gäbe, dann hätte Harry die sich schon gekrallt, für heute Abend zum Kellnern oder für irgendwelche Arbeiten bei seiner erbärmlichen Aufführung. Gott weiß, wenn ich ein Gespenst wäre, dann hätte ich mich in der Sekunde aus dem Staub gemacht, als Harry in der Tür stand.«
»Tja, wenn du meinst.« Vorsichtig legte er sich wieder hin. Ich drehte mich wieder zum Fenster. Ich saß auf meinem alten Aussichtspunkt hinter Vaters Schreibtisch, von wo ich immer den Turm betrachtet und gelegentlich einen Engel oder eine Schauspielerin gesehen hatte. Heute Nacht waren keine Engel unterwegs. Wahrscheinlich hatten wir unser Kontingent schon aufgebraucht, oder sie waren mit den Gespenstern auf Spritztour.

W
ir hatten die Dinnerparty so gründlich, so unzweideutig ruiniert, dass wir, selbst nachdem der Furor verraucht und die Sanitäter wieder abgezogen waren, für die klügste Vorgehensweise die gehalten hatten, uns in Schande zurückzuziehen. Ich war mir nämlich ganz und gar nicht sicher, ob Mutter es nicht doch ernst gemeint hatte mit ihrer Drohung, uns zu verklagen. Also hatte ich mit Mrs Ps Hilfe Frank nach oben geschmuggelt, und hier waren wir nun. Erst jetzt, während ich auf der Fensterbank saß, ging mir auf, dass das Ende bedeutete, dass für uns der letzte Vorhang gefallen war. Morgen war schon heute. Bel reiste nach Jalta ab, und Amaurot erlebte seine Wiedergeburt als Telsinor Hythloday Centre of the Arts. Und unsere Bemühungen hatte am Ende nicht das Geringste bewirkt.

I
ch war an allen Fronten vernichtend geschlagen worden, und ich hätte eigentlich, in diesem Augenblick der Augenblicke, in Verzweiflung versinken müssen. Und doch war ich, während ich da am Fenster saß, ganz und gar nicht verzweifelt. Denn aus der Düsterkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Demütigung des Tages stiegen gewisse aufmüpfige Bilder in mir empor: Frank, der mit Droyd auf den Armen aus dem stinkenden Kellerloch stapfte; Frank, der gegen das Plexiglas hämmerte und die Hunde anfeuerte; der glorreiche Augenblick, als Frank - die Zungenspitze lugte zwischen seinen Zähnen hervor - Harry einen knackigen Schlag auf die Nase verpasste. Ich hatte nicht um die Bilder gebeten, sie schienen auch nichts zu ändern, und doch waren sie da, tauchten immer wieder aus der Dunkelheit vor meinen Augen auf und erinnerten mich an einen Satz von Yeats: »Freundschaft ist mein einziges Haus.«

D
urch mein geisterhaftes Spiegelbild hindurch betrachtete ich mit gerunzelter Stirn die im Regen wogenden Bäume. Freundschaft ist das einzige Haus, das ich habe. Keine Zeile, an die ich bislang viele Gedanken verschwendet hätte. Aber sie ergab Sinn, angesichts all der Probleme, mit denen man sich bei einem richtigen Haus herumschlagen musste: Heizkosten, Hypotheken, widerspenstiges Personal, Vermieter, die Wuchermieten eintrieben, Schauspieler, die bei einem einzogen, so was halt. Wie würde so ein Haus aus Freundschaft aussehen? Die blassen Bilder von den Ereignissen des Tages zogen noch einmal an mir vorüber, wie auf einem Wandteppich, der die Geschichte einer längst vergangenen Schlacht erzählt: Entgegen all meinen Bemühungen um ein Leben in Eleganz schien das Beweismaterial nahe zu legen, dass ich nicht viel getan hatte, um mich vor den Unbilden der Elemente zu schützen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.07.2006