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Doch während sie dies sagte, schweifte ihr Blick über das Mobiliar und die Einrichtung, und ihre Augen funkelten vor Genugtuung.
»Das machen die slawischen Wangenknochen«, sagte OÕBoyles Assistentin mit der lavendelfarbenen Jacke, während sie Mirela betrachtete und dabei ihr Weinglas streichelte. »Die sind so herrlich fotogen.«
»Es heißt Der verrostete Traktor«, sagte Harry zu Geoffrey. »Es geht um eine junge Frau, die aus der Stadt in ein abgelegenes Dorf in Connemara zieht, an einen dieser Orte, die noch total in der Vergangenheit leben, kein Internetzugang, zwei Fernsehsender É egal, jedenfalls zerstreitet sie sich mit den Einheimischen, weil sie auf ihrem Land einen Mobilfunkmasten aufstellen will, weil É ich weiß nicht, ob Sie schon mal im Westen waren, aber der Empfang da ist wirklich das Letzte É aber für die Leute da ist das so eine Art Sakrileg, weil, na ja, Sie wissen schon, land, das ist da nochÉ«
»Charlie!«, rief eine heisere Stimme von der anderen Tischseite. »Worüber redet der?«
»Ich glaube, über Mobiltelefone«, sagte ich.
»É es entwickelt sich also ein Konflikt zwischen dem ÝneuenÜ Irland, dem Irland der Technologie, der Kommunikation, der Gleichheit der Geschlechter und dem alten Irland der Repression, des Aberglaubens, des Widerstands gegen den Wandel, und das alles wird repräsentiert durch den verrosteten Traktor É«
»Was macht er da dauernd mit den Fingern?«
»Das sollen Gänsefüßchen sein, Anführungszeichen«, flüsterte ich. »Hör einfach nicht hin. Ist sowieso kompletter Nonsens. Mobiltelefone - schon die Idee an sich ist absurd. Kein Mensch will sich von einem Telefon nerven lassen, wenn er unterwegs ist, nur deshalb geht er doch aus dem Haus.«
»Hab das Gefühl, in meinem Kopf geht Õn Blitzlicht los«, sagte Frank mit zusammengebissenen Zähnen und hielt sich den Kopf.
»Was?« Ich schaute ihn an. Auf seiner Stirn stand Schweiß, und die Augen vollführten dieses alarmierende Rolle-rückwärts-Kunststück. Er benahm sich heute definitiv noch soziopathischer als sonst. Der Handytreffer musste irgendetwas ausgestöpselt haben. »Schau dir bloß diesen Haufen Idioten an«, sagte er und schaute mit finster grollendem Blick am Tisch entlang.
»Iss deine Trüffeln«, sagte ich hastig und zeigte auf seinen Teller. »Und vielleicht solltest du jetzt nichts mehr trinken.« Ich kippte den Inhalt seines Glases in mein Glas.

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us Angst, unbescheiden zu erscheinen, habe ich es bislang nicht erwähnt, aber seit ich mich gesetzt hatte, starrte Mirela mich an. Anfangs wehmütig, mea-culpa-mäßig, und nur wenn Harry woanders hinschaute, den ich im Übrigen höflich ignorierte. Doch sie war hartnäckig: Je weiter der Abend voranschritt, desto dringlicher wurden die Blicke, die sie von der anderen Tischseite zu mir herübersandte - als wolle sie mir irgendeine Botschaft übermitteln, mittels eines Morsecodes aus Zwinker- und Blinzelbewegungen, die schließlich den flehentlichen Blicken dieser Stummfilmheldinnen ähnelten, die immer gefesselt auf den Bahngleisen liegen. Doch jetzt, als die Uhr Mitternacht schlug, schien sie sich plötzlich in ihr Schicksal zu fügen. Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen, im gleichen Augenblick summte ein Weinglas, und Harry erhob sich.
»Freunde É Freunde.« Er bat mit erhobener Hand um Ruhe. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen mit einigen wenigen Worten zur Last falle.« Seine tölpelhafte Frisur sah noch verschlungener und ärgerlicher aus als sonst. An Evening of Long Goodbyes fing an zu knurren. »Psst«, sagte ich. »Böser Hund, schön ruhig sein.« Als Mutter wieder wegschaute, schob ich ihm eine Trüffel ins Maul.
»Viel ist heute Abend gesprochen worden von Visionen, von Wiedergeburten, von neuen Anfängen É«
»Grrrrrrrhhhh.« Frank presste sich die Fäuste gegen die Schläfen.
»Lassen Sie mich also beim Thema des Abends bleiben«, fuhr Harry fort. »Ohne viel Umschweife É Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, dass sich heute Abend um halb neun Miss Mirela Pribicevic bereit erklärt hat, mit mir in den Stand der Ehe É«
Noch bevor er den Satz beenden konnte, schoss der weibliche Teil der Tischgesellschaft von den Stühlen hoch, stürmte auf Mirela los und schloss sie kreischend in die Arme. »Ach, wie wunderschön!« Mutter krallte sich die Finger in die Wangen, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ach, wie wunderwunderschön!«

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eine erster Gedanke galt Bel. Ich drehte mich schnell um, wobei ich die Arme schon halb ausgebreitet hatte, wohl in der Annahme, sie könne vielleicht in Ohnmacht fallen. Doch sie schaute sich das alles so seelenruhig an, als spiele es sich weit, weit weg und unter Menschen ab, die sie noch nie zuvor gesehen hatte - weshalb ich zwangsläufig auf meine eigenen Emotionen zurückgeworfen wurde.
Es war komisch: Hätte mir jemand vor fünf Minuten diese Situation ausgemalt, hätte ich ihm wahrscheinlich gesagt, und zwar aus ehrlicher Überzeugung, dass mir das vollkommen egal sei. Doch als ich Mirela jetzt anschaute, fühlte ich mich so kalt, krank und leer, als hätte man mir den Todesstoß versetzt. Als sie aus dem jubelnden Getümmel wieder auftauchte, das Gesicht rosafarben und frisch, lachend und ganz wie ein verliebtes Mädchen, ging mir alles, was sie mir während unserer wenigen widersprüchlichen Unterhaltungen gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf. In diesem Augenblick wurde mir mit schrecklicher Endgültigkeit bewusst, dass ich keine Ahnung hatte und auch nie haben würde, wie diese Welt funktionierte oder was in den Herzen ihrer Bewohner vor sich ging; dass sie mir in höchstem Maße undurchsichtig und rätselhaft war und immer sein würde, und was auch immer von nun an geschähe, wäre vollkommen einerlei, weil sie mir nie begreiflicher werden würde.
»Charlie«, sagte der schweißnasse Frank in vertraulichem Ton. »Ich spür mich nicht mehr.«
»Ich mich auch nicht, alter Knabe«, sagte ich. »Ich mich auch nicht.«

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n der Zwischenzeit hatte Harry sein Versprechen von wegen einiger weniger Worte schon gebrochen. Stattdessen nutzte er seine Ankündigung als Sprungbrett für ausufernde Volksreden. »Anlässlich dieser doppelten Vereinigung«, sagte er laut über das Stimmengewirr hinweg, »möchte ich noch einige Worte des Dankes loswerden. Dieser Tage hört man immer wieder, dass das Konzept von Familie in unserer schnelllebigen Welt keinen Platz mehr habe. Doch vom ersten Tag an, als Bel mich gebeten hatte, mich der von ihr gegründeten Theatergruppe anzuschließen, ist diese genau das für mich gewesen - eine Familie. Und mir wurde bewusst, was eine Familie sein kann. Da ich einer typischen Mittelklassefamilie entstamme, Ýpetit bourgeoisÜ, wie man so schön sagt, hatte ich eine ziemliche schlechte Meinung von É«
Aus dem leeren Teller, in dem mit dem Gesicht nach unten sein Kopf lag, hörte ich Frank sagen, dass er das nicht mehr lange aushalte.
»É erkannte ich, dass die Familie etwas Politisches, etwas radikal Politisches sein kann, eine Kraft, die gegen die herrschenden Gruppen unserer Zeit wirken kann, ein Freiraum, wo unterschiedliche Meinungen zusammenkommen und neue Bündnisse eingegangen werden können - wie jenes, das ich das Glück hatte, heute Abend eingehen zu können É«
Ich kippte mein gerade nachgeschenktes Glas Rioja hinunter und spürte, dass mir der kalte Schweiß ausbrach und sich meines Körper bemächtigte wie eine Art Gewebebrand. Man kann das Leben ja nicht einfach anhalten. Das hatte Mirela in jener Nacht in Franks Wohnung gesagt. Das Leben würde sich immer weiter von einem selbst entfernen und schließlich in deine Vergangenheit eindringen und auch sie verändern.
»É wurde mir klar, dass der freie Markt an sich - genau wie eine Waffe - nicht gut oder schlecht ist. Wir können ihn für einen guten Zweck einsetzen, wir können uns mit ihm verbünden. Und so wie wir gewachsen sind, ist auch Amaurot mit uns gewachsenÉ«

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nzwischen schwang ja jeder nur noch Reden! Mir war, als vollführte er einen Totentanz, als hüpften er und die Kräfte des Marktes, er und die Abwickler von Industrien, er und die Golems des Fortschritts auf unserem Grab herum. Aber niemand tat etwas, niemand trat ihm entgegen oder forderte ihn heraus, niemand sagte, das stimmt nicht, das Zeug, das du da redest, das ist Unsinn É
» É muss man für ein Haus, das von seiner eigenen Geschichte niedergedrückt, von ihr erstickt wird, wieder einen strukturellen Kontext herstellen, man muss es wieder ausjustieren auf die Moderne und quasi den ganzen Laden in die Zukunft, ins einundzwanzigste Jahrhundert hieven É«
Ich näherte mich langsam dem Punkt, an dem ich es physisch nicht mehr länger würde ertragen können. Und offenbar gab es noch jemanden im Raum, der ähnlich fühlte, denn plötzlich rief eine laute, aufgebrachte Stimme: »Ach was, Mumpitz!«
Alle verstummten. Harry rückte seine Fliege zurecht und sagte: »Bitte?« Als wollte er dem Delinquenten Gelegenheit geben, sich wieder reinzuwaschen. Doch der Protestierende ließ sich nicht beschwichtigen. »Affenscheiße!«, kreischte die Stimme ein zweites Mal, und zwar noch lauter als beim ersten Mal. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.07.2006