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Neben Niall OÕBoyle saß eine Frau, die eine ziemlich unvorteilhafte lavendelfarbene Jacke trug - seine persönliche Assistentin, wie man mir sagte. Dann sah ich den wollenen Haarschopf von Geoffrey, dem alten Steuerberater unserer Familie. Seit der Eröffnung von Vaters Testament hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er schien sich unwohl zu fühlen, als wäre ihm etwas im Hals stecken geblieben. Seine und meine Stellung in der neuen Rangordnung waren klar; man hatte uns glanzlose Plätze in der Mitte zugewiesen, da, wo die Tischgesellschaft in Richtung johlender Schauspieler und Inspizienten abglitt.
»Hast wahrscheinlich gedacht, dass wir gar nicht mehr auftauchen heute Abend«, sagte ich unbekümmert zu Bel.
»Was ist das denn?« Hustend rutschte sie mit ihrem Stuhl zurück. »Seit wann rauchst du Pfeife?«
»Ach, im Moment hab ich jede Menge Zeit. Aber, wie gesagt, fast hätten wir es nicht mehr geschafft. Der ganze Tag war ein einziger Albtraum. Aber ich hab zu Frank gesagt, das ist Bels letzter Tag - und wenn uns der Himmel auf den Kopf fällt, ich bin da.«
»Das riecht ja widerwärtig«, brummte sie.

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ch war froh, dass sie mit mir redete, auch wenn sie nicht gerade Purzelbäume schlug. Aber sie kam mir irgendwie abgehoben vor, und alles, was sie sagte, klang so phrasenhaft, dass ich mir mehr und mehr wie ein Idiot vorkam, wenn ich ihr antwortete. Wie ich es auch anpackte, ich konnte diesen Porzellanpanzer nicht knacken. So war es mir nicht nur nicht möglich, zum Punkt Vergebung und den vielerlei Reden vorzustoßen, die ich zu diesem Thema vorbereitet hatte, sondern es fiel mir schon bald - nachdem ich Jessicas Kiddons Nachricht wegen des Taxis ausgerichtet und ein bisschen Smalltalk über die Dekoration gemacht hatte - rein gar nichts mehr ein, was ich ihr hätte sagen können. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich erleichtert, als Mutter sich erhob und mit einem Gabelzinken leicht ans Glas schlug und mir klar wurde, dass Frank und ich zwar das Essen verpasst, aber es gerade noch rechtzeitig zu den stumpfsinnigen Reden geschafft hatten.
»Heute Abend«, hob Mutter an, »ist ein Abend des Aufbruchs und des Abschieds. Einerseits ist der Anlass ein trauriger, weil wir, wenn auch nur für kurze Zeit, unserer lieben Bel Adieu sagen, die morgen früh nach Russland reisen wird. Doch im Wesentlichen ist es ein freudiges Ereignis, denn der heutige Abend kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche, eines neuen Abschnitts in der Geschichte dieses prächtigen alten Anwesens.«
Wir applaudierten pflichtschuldigst.

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uch möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich zu bedanken - bei Telsinor Ireland und vor allem bei Niall OÕBoyle, dessen Weitblick und Sinn für soziales Engagement - eine in der heutigen Geschäftswelt selten gewordene Eigenschaft - eine so zentrale Rolle bei der Schaffung dieser einzigartigen Partnerschaft gespielt haben.« Während sich Niall OÕBoyle in der Bewunderung sonnte wie eine Kroneidechse auf einem Felsen, forderte Mutter uns auf, einen Augenblick darüber nachzudenken, was diese Partnerschaft, die morgen früh mit der Unterzeichnung der Papiere besiegelt würde, für uns bedeutete. Sie skizzierte, wie der alte Westflügel renoviert, das Theater erweitert und der schon lange versprochene Unterricht für Kinder aus vernachlässigten Stadtteilen in Angriff genommen würde.Und sie erklärte, dass mit der Unterzeichnung der Papiere - um den persönlichen Aspekt anzusprechen - die Zukunft des Hauses in finanzieller Hinsicht sichergestellt sei, was ihrem kürzlich verstorbenen Gatten trotz jahrelanger Arbeit nie gänzlich gelungen sei É
»Charles, hör auf so zu zucken.«
»Ich kann nichts dafür, Geoffrey ist schuld, er stiert mich die ganze Zeit an. Er sieht aus, als wollte er sich jeden Moment bekreuzigen.«
»Dein Gesicht, Charles«, flüsterte Bel mir zu. »Hast du dir dein Gesicht nicht angeschaut? Du siehst ganz genauso aus wie É Oh.«
Mutter war inzwischen beim Abschiedsteil ihrer Rede angekommen und bat Bel, aufzustehen und sich zu verbeugen. »Unser Verlust ist Russlands Gewinn«, sagte Mutter. »Bels Leidenschaft für das Theater stand immer außer Frage. Ich glaube kaum, dass irgendein anderes Mädchen zu ihrer eigenen Abschiedsparty im Hamletkostüm erscheinen würde.«

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lle lachten beifällig und klatschten wieder. Frank beugte sich zu Mirela hinüber, die kaum einen Bissen gegessen hatte, und fragte, ob sie vorhabe, noch fertig zu essen. Niall OÕBoyle stand auf, bedankte sich bei Mutter und begann - mittels Karteikarten, die ihm seine persönliche Assistentin reichte - eine Rede zu halten, des Inhalts, dass Amaurot mehr sei als nur ein Haus, sondern vielmehr ein Symbol, das Symbol eines Ideals, und wie inspirierend er persönlich es empfunden habe, dieses Ideal in Form des Telsinor Hythloday Centre for the Arts mittels moderner Technologie in die Zukunft transponiert zu sehen, und so weiter und so fort. Meine Gedanken schweiften ab. Ein frischer Schwall Regen klatschte gegen die Scheiben. Links von mir zupfte Bel an einem Zierdeckchen herum. Der pummelige Inspizient fuhr mit seiner Schuhspitze an der Wade des Mädchens mit den Haarspangen auf und ab und versuchte sie zum Lachen zu bringen.
»É ein zentraler Bestandteil unseres Projekts der Erneuerung, ein bleibendes Denkmal für den, der die Werte, von denen wir sprechen, wirklich verkörperte und, was noch wichtiger ist, diese Qualitäten einsetzte und mit anderen teilte, um diese Welt lebenswerter zu machen.«
Tobender Applaus. »Was hat er gesagt?«, flüsterte ich Bel zu.
»Sie wollen eine Statue von Vater aufstellen«, sagte Bel, während sie geistesabwesend aus ihrem Deckchen eine Garrotte schlang.

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it dieser Ankündigung waren die Ansprachen beendet, und die Tischgesellschaft zerfiel in kleine, zufrieden plappernde Grüppchen. Bel jedoch zog sich immer weiter in sich zurück; sie beobachtete das Geschehen wie durch ein Mikroskop. Wonach ich sie auch fragte, ob es um Jalta, Die Rampe oder Oliviers juristische Malaise ging, sie antwortete in höflichen und mit so wenigen Worten, wie es einem Menschen möglich war, und verfiel dann wieder in Schweigen. Ich kam mir vor, als säße ich neben einem leeren Stuhl.

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ch hielt die Zeit für gekommen, die schweren Geschütze aufzufahren. Als Mrs P hereinkam und fragte, ob jemand Kaffee wolle (Frank hatte Recht, sie sah tatsächlich etwas derangiert aus), flüsterte ich ihr etwas ins Ohr. Ein paar Minuten später steckte An Evening of Long Goodbyes seine schnüffelnde Nase ins Zimmer. Er war bandagiert und sah schon viel erholter aus.
»Nun!«, sagte ich. »Schau, wer da ist!«
»Und, wer ist da?« Bel hob kaum eine Augenbraue.
»Erkennst du ihn nicht?« Ich versuchte den Hund abzulenken, damit er kurzzeitig von seinen Fortpflanzungsorganen abließ und Bel seinen Kopf richtig sehen konnte. »Das ist der Hund, auf den du damals auf der Rennbahn gewettet hast, erinnerst du dich? An Evening of Long Goodbyes. Du hast gesagt, der Name wäre so romantisch.«
»Was macht er hier?«, fragte Bel.
Ich unterdrückte meinen Zorn. »Na ja, er gehört dir. Das ist doch offensichtlich, oder? Mein Abschiedsgeschenk.«
»Wir haben ihn auf dem Parkplatz abgestaubt«, warf Frank wenig hilfreich ein.
»Wir haben ihn nicht abgestaubt«, sagte ich. Ich erzählte die Geschichte des Rennens und welche Heldentaten er vollbracht hatte. Bel schien immer noch nicht zu begreifen, was das mit ihr zu tun hatte. Sie nickte gleichgültig, tätschelte die glatte Stelle zwischen seinen Ohren und sagte etwas in der Richtung, dass sie nicht wüsste, ob Aeroflot Hunde im Handgepäck gestatte.
»Du kommst ja auch mal wieder zurück, oder nicht?« Allmählich wurde ich sauer. »Ich hab mir halt gedacht, es wär ganz schön, wenn wir wieder einen Hund im Haus hätten. Mir war wieder eingefallen, wie abgöttisch du damals diesen Spaniel geliebt hast É« Das, da war ich mir sicher, würde eine Reaktion hervorrufen, doch ihr Gesicht blieb so leer wie die silberne Hundemarke in meiner Tasche. Ich dachte daran, als Beleg für ihre Obsession die Marke zu zücken und ihr so zu beweisen, dass der Hund ein gutes Geschenk war - ungeachtet Aeroflots Handgepäckrichtlinien. Aber ich beherrschte mich, ich hatte mein Bestes getan, um Wiedergutmachung zu leisten. Wenn sie einen auf infantil machen wollte - von mir aus. Sie versank wieder in ihre Tagträumereien. Und auch ich verfiel jetzt in missmutiges Schweigen. Auf der anderen Tischseite fing Frank wieder an, vor sich hin zu brabbeln, wobei er hin und wieder einen abergläubischen Blick auf Bel warf - so wie ein Urwaldbewohner ein Fahrrad anstieren würde. O Mann, wir waren vielleicht eine Gesellschaft.

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issen Sie«, sagte Niall OÕBoyle zu Mutter und kippte seinen Stuhl nach hinten, »ich hab schon immer mit so einem alten Haus geliebäugelt. Wo ein Mann mal wieder richtig über alles nachdenken kann.«
»Ach Gott, diese alten Kästen machen mehr Ärger als sonst was«, sagte Mutter lachend. »Lassen Sie sich nicht täuschen. Es macht dermaßen viel Arbeit, sie in Schuss zu halten. Nur an Abenden wie heute, da kommt so ein Haus wirklich zur Geltung.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.07.2006