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Tatsächlich wurde sie ganz blass, das Sherryglas glitt ihr aus der Hand und ergoss seinen Inhalt über den Boden.
»Es ist alles in Ordnung, Charles, lass nur«, sagte sie und hatte sich gleich wieder im Griff. »Ich hatte niemanden mehr erwartet, das ist alles. Hatte ich nicht gesagt, punkt acht? Also wirklich, bist du jetzt schon so weit, dass du so etwas für ein sauberes Hemd hältst?«
Ich wollte ihr alles erklären, fing von der Miete und dem Rennen an, doch sie fiel mir sofort ins Wort. »Charles«, sagte sie und schaute nach unten. »Da tropft etwas auf deinen Schuh, sehe ich das richtig?«
»Das wollte ich dir gerade erklären. Mutter, darf ich dir das neueste Mitglied unserer É unserer Gang vorstellen. An Evening of Long Goodbyes.«
»Du hast hoffentlich nicht vor, das da mit ins Haus zu nehmen.«
»Tja, weißt du, das ist eine Art Abschiedsgeschenk für Bel.«
»Wenn du glaubst, Charles, ich lasse zu, dass dieses flohverseuchte Vieh auf meinem Parkett stirbt, während ich Gäste im Haus habe, dann É«

Er stirbt nicht. Er hat ein paar Hiebe einstecken müssen, das ist alles. Ein bisschen was zu fressen, und er ist wieder topfit. Na komm schon.«
Mutter seufzte schwer und drückte den Rücken durch. Aus dem Haus drangen gedämpfte Geräusche von fröhlichem Treiben zu uns. »Wo ist Patsy?«, fragte sie, hielt sich ihre Lorgnette vor die Augen und schaute angestrengt in die Dunkelheit. Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Charles«, sagte sie sotto voce. »Das ist nicht Patsy Olé.«
»Nein, Mutter, das ist Frank. Du erinnerst dich doch an Frank?«
»Doch nicht der Junge aus der Garderobe?«
»Doch, doch, das ist er.«
Die Enden ihrer Mundwinkel senkten sich noch ein klein wenig tiefer. »Ich weiß von einigen Personen, die sich sehr für seine Meinung betreff des Verbleibs ihrer Handtaschen interessieren würden.«
»Also komm, das ist doch lächerlich«, protestierte ich. »Frank ist ein grundehrlicher Mensch. Da, schau ihn dir doch an É«
Wir begutachteten den an seinem Lieferwagen lehnenden Frank ein weiteres Mal. Er winkte uns mit zappeligen Finger zu und grimassierte grauenerregend.
»Ich pass auf ihn auf, ich versprechÕs dir.«

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ls Mutter durch die Nase ausatmete, war ein schwaches Pfeifgeräusch zu hören. »Also gut«, sagte sie. »Sollte sich jedoch nur ein Hauch von Belästigung É« Sie ließ die Drohung unvollendet in der Luft hängen. »Und bring dieses Ding da bitte durch die Küche ins Haus.«
Ich war mir nicht sicher, ob sie Frank oder den Hund meinte, aber ich fragte auch nicht nach. Ich nickte Frank zu, und er kam leicht schwankend herüber. Wir packten den geschlagenen Hund an beiden Enden, hoben ihn hoch und schlugen uns in den klatschnassen Garten.
In den Fenstern hing Rokokoweihnachtsschmuck. Alle Lampen im Haus brannten und tauchten den Rasen und die kahlen Bäume des Obstgartens in ein butterweiches Licht. Stolz wie ein sein Königreich überblickender Berglöwe stand der flaschengrüne Mercedes vor der Garage. Von außen wirkte die Küche wie eine griechische Trauerfeier: Hektische Kellner in Schwarz trugen Geschirr herum und ließen Schüsseln in zitternde Berge aus Seifenlauge fallen. Niemand schenkte uns und unserer seltsamen Fracht Beachtung, bis wir auf Mrs P stießen, die in der Nische neben dem Kühlschrank herumfuhrwerkte.
»Master Charles!«, kreischte sie und schlang ihre Arme um mich. »Sie haben Gesicht wieder! Wunderschönes Gesicht!« Und dann erblickte sie den Hund. »Ach Gott, Master Charles, haben Sie den überfahren mit Auto?«
»Nein«, sagte ich ärgerlich. »Das ist ein Abschiedsgeschenk für Bel.«
Sie sagte etwas auf Bosnisch, und Zoran, der Sohn mit dem runden Schädel, kam herüber und drückte mit den Fingern auf den Rippen des Hundes herum.
»Ich glaube, der ist É wie sagt ihr dazu É erledigt?«
»Er ist nicht erledigt. Ich wünschte, ihr würdet endlich damit aufhören, dauernd solche Sachen zu sagen, das regt ihn bloß auf«, sagte ich. Allerdings stimmte es schon, dass er nicht gerade den besten Eindruck machte, wie er da so reglos auf dem Boden lag. »Er musste ein paar Hiebe einstecken, das ist alles. Er braucht was zu fressen, dann É he, was machst du da?« Zoran hatte eine schmale Metallklammer an seiner Flanke befestigt und kramte in einem Kasten mit bedrohlich aussehenden Instrumenten herum.
»Keine Sorge«, flüsterte mir Mrs P ins Ohr. »Er ist Doktor.«

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as war mir neu, hatte ich Zoran doch nie etwas anderes tun sehen als Bier trinken und schlecht Trompete spielen. Und An Evening of Long Goodbyes schien auch nicht sonderlich scharf auf die Nadeln zu sein, die da aus dem Kasten auftauchten. Zoran schien allerdings zu wissen, was er tat.Und wenn ich es recht bedachte, war es wahrscheinlich besser, man flickte ihn noch etwas zusammen, bevor wir Bel mit ihm überraschten.
»Charlie É« Eine lahme Hand krallte sich in meinen Ärmel.
»Um Himmels willen, sei nicht so melodramatisch. Mrs P, vom Abendessen ist nicht zufällig noch was übrig? Ich glaube, Frank fühlt sich ein bisschen É«

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rs P war sich nicht sicher, sagte aber, sie wolle versuchen, noch etwas aufzutreiben. In der Zwischenzeit sollten wir uns säubern und dann zu den anderen gesellen.
»Warum ist eigentlich Mrs P nicht zu der Party eingeladen, Charlie?«, fragte Frank, als wir durch die Halle gingen.
»Weil sie die É nun ja, es ist nicht so, dass sie nicht eingeladen ist, eigentlich. Sie bleibt eben lieber im Hintergrund bei solchen Anlässen. Sie mag das halt nicht, dieses Pompöse.«
»Ah so. Hab mich bloß gefragt, warum sie vorhin so geweint hat.«
»Sie hat geweint?«
»Ja, als wir reingekommen sind.«
»Hat wahrscheinlich gerade Zwiebeln geschnitten oder so. Vielleicht ist es auch wegen Bel. Sie ist ein ziemlich mütterlicher Typ; alle Köchinnen sind so.«

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inzelne Stimmen waren zu hören, als wir Richtung Speisezimmer gingen, alle übertönend die von Niall OÕBoyle: »É diesen neuen Materialmix, den wir einsetzen, wenn es zum Beispiel in die Kloschüssel fällt, hält es das problemlos aus. Oder wenn man drauf tritt, los, keine Angst, treten Sie richtig drauf, na sehen Sie? Da, wo Sie jetzt gerade drauf stehen, das ist die Zukunft der Kommunikationstechnologie. Oder wenn Sie es, sagen wir, gegen die Wand werfen É« Ich stieß die Tür auf, und wir betraten ein in gedämpftes Licht getauchtes Serail, das in den atemberaubendsten Gold- und Rottönen gehalten war.
»Großer Gott!«, sagte ich und umklammerte Franks Arm. »Ist das nicht wunderschön? Achtung, runter!«
»Was?«, sagte Frank, gerade als Niall OÕBoyles Handy durch die Luft segelte, Frank voll an der Schläfe erwischte und er wie ein gefällter Baum auf den Boden krachte. Zwei Dutzend Augenpaare schauten uns an, und am Kopfende des Tisches standen peinlich berührt und mit offenem Mund Niall OÕBoyle und Harry, der Handywerfer. Mutter schaute mich rachsüchtig an. Hastig hob ich das Handy auf und hielt das leuchtende Display hoch. »Funktioniert einwandfrei, Ladys und Gentlemen.« Alle atmeten erleichtert auf und plapperten weiter.
»Sollte nur eine kleine Demonstration sein«, sagte Niall OÕBoyle großspurig.
»Kein Problem, ist sicher nicht so schlimm«, beruhigte Mutter ihn. »Bel, Darling, würdest du dich bitte um ein paar Eiswürfel kümmern.«
Bel, die am anderen Ende saß, stand widerstrebend auf. Das warm glänzende Licht des Kandelabers funkelte auf ihrer dünnen goldenen Halskette. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Sie kam um den Tisch herum und ging neben Frank in die Hocke, der sich mit geschlossenen Augen auf dem Boden krümmte und wirres Zeug brabbelte. »Wo wart ihr?«, fragte sie mich. »Was hast du ihm angetan?«
»Ich hab ihm gar nichts angetan«, sagte ich. »War ein ziemlich anstrengender Tag, das ist alles.«
»Ihr beide riecht wie eine ganze Schnapsfabrik.«
»Er braucht nur was zu essen É Ist noch was da?«
»Ich glaube, es sind noch Trüffeln da«, sagte sie. »Und vielleicht etwas Consommé?«
»Was ist Consommé?«, sagte Frank und öffnete die Augen.

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ir führten ihn zu einem Stuhl. Bel ging nach draußen und kam mit einem Eisbeutel und einer Platte mit von Mrs P zusammengekratzten Resten wieder zurück. Das stimmte Frank versöhnlich. Ich saß ihm gegenüber. Ich fühlte mich selbst ein bisschen benommen. Seit Frank meinen Crêpe in den Abfalleimer geworfen hatte, hatte ich nichts mehr gegessen, und allmählich wünschte ich, wir hätten, wie er unterwegs vorgeschlagen hatte, an einem Stand auf ein paar Chicken Balls angehalten. Aber jetzt war es zu spät, also hielt ich mich an die Flasche rauchigen Rioja, die herumging, zündete meine Bruyèrepfeife an und studierte die Tischgesellschaft. Mutter saß am Kopfende, mit dem Ehrengast Niall OÕBoyle zur einen und Harry in seiner widerlichen Landedelmannweste zur anderen Seite. Neben Harry saß Mirela; sie länger anzuschauen, versagte ich mir. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.07.2006