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Sie lachte und sagte, ja, vielleicht. »Wir laufen uns schon mal wieder über den Weg, Charles, da bin ich ganz sicher.«
Ich steckte das Handy in die Tasche und strahlte. Jawoll, da war es wieder, das alte Hythloday-Flair! Ich war wieder im Rennen!
Inzwischen war es ziemlich spät. Ich ging zu Frank und sagte ihm, ich würde mir ein Taxi besorgen und nach Amaurot fahren. Er bestand darauf, mich hinzufahren. Ich fand das verdammt anständig von ihm, und als wir das Tribünengebäude verließen, hatte ich wieder eine von meinen Ideen. »Weißt du was, warum kommst du É Aua, verdammt!«
»Alles okay, Charlie?«
»Nichts ist okay, natürlich nicht, wo kommen auf einmal die ganzen Stufen her?«
»Tja, schätze, die waren schon da, als wir gekommen sind.«
»Hmm, stimmt wohl«, musste ich zugeben. »Ich wünschte, die hätten die zweite Flasche Champagner nicht mehr aufgemacht É Ist mir wohl ein bisschen zu Kopf gestiegen.« Frank hievte mich vom Teerbelag in die Senkrechte, und die artig über mir kreisenden Sternchen befanden sich jetzt wieder direkt über meinem Kopf. »Was ich sagen wollte, warum kommst du nicht mit? Ich meine, du bist zwar nicht passend gekleidet, aber É«
»Der Wagen ist da drüben, Charlie.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen deshalb.« Ich wischte etwaige Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. Ich fühlte mich wie ein edelmütiger Bilderstürmer; plötzlich erschien mir kein Hindernis unüberwindbar. »Ich werde alles erklären. Mutter ist ein wahres Schmusekätzchen, wenn man weiß, wie man sie packen muss. Ach was, egal, ich werde ihr einfach sagen, dass du mein Gast bist und É und ein verdammt netter Kerl.«
»Vielen Dank, Charlie.«
»Ach was, nichts zu danken. Hey, was ist das da? Eine Jacke, oder? Da hat einer seine Schaffelljacke verloren.«
Die Scheinwerfer des Lieferwagens beleuchteten einen besonders trostlosen Winkel des Parkplatzes. Zwischen wucherndem Unkraut lag ein Haufen alter Klamotten. Qualvolle Laute schienen aus dem Haufen zu kommen. Ich konnte mich nicht erinnern, ob Jacken das typischerweise tatenÉ
»Wart mal É« Ich stieg aus und bewegte mich im Zickzack über den schwankenden Kiesboden bis zu dem Haufen.
»Und, was ist es?«, rief Frank vom Wagen aus.
»Hmm.« Die Schaffelljacke schaute mich aus hoffnungsvollen braunen Augen an. Eine lange rosa Zunge leckte zaghaft meine Hand. »Sieht aus wie An Evening of Long Goodbyes.«
Frank stieg aus und kam herüber. »Die von der Bahn haben ihn wahrscheinlich hier hingeschmissen«, sagte er.
»Hingeschmissen? Mach dich nicht lächerlich. Wie können die ihn einfach hier hinschmeißen? Der Hund ist ein Held É ein Held.«
»Tja, Charlie, aber viele Rennen gewinnt er auch nicht mehr.« Er hatte Recht. Die Flanken des Hundes waren blutverschmiert. Ein Bein war übel zerfleischt, um Augen und Schnauze waren die Bissspuren von Celtic Tigers Zähnen zu sehen. Hechelnd ließ er den Kopf wieder auf den Boden sinken.
»Aber das ist doch, ich meine, verdammt É« Ich kratzte mich am Nacken. »Und was machen wir jetzt? Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen.«
»Jetzt komm schon, Charlie, ich dachte, wir habenÕs eilig.«
Zum Zeichen, dass er den Mund halten sollte, hob ich den Finger. Mein Gehirn suchte verzweifelt eine Verbindung herzustellen, und zwar zwischen dem Windhund und dem Mond, der sich vor meinen Füßen in der langen, nierenförmigen Wasserpfütze spiegelte É
»Genau!« Ich kramte in meiner Hosentasche, bis ich fand, was ich suchte: die stumpfe Metallscheibe, die es Bel so angetan hatte. Jetzt wusste ich, wofür sie war.
»Was ist das?«
»Eine Hundemarke, alter Junge.«
»Was Soldaten um Õn Hals haben?
»Nein, Hunde.« Genau die gleiche hatte sich Bel zusammen mit einem Halsband und einer Leine aus rotem Leder vor vielen Jahren von ihrem Taschengeld gekauft, und zwar für den Spaniel, um den sie sich solche Sorgen gemacht hatte und den wir nicht hatten behalten dürfen. Wenn es denn so weit gekommen wäre, hätte sie den Namen darauf eingravieren lassen. Irgendwer musste die Marke auf dem Speicher ausgegraben haben.
»Für was hat Bel das Ding eigentlich mit sich rumgeschleppt, Charlie?«
»Psst.« Ich versuchte den Alkoholschleier, der mein Gehirn verhängte, wegzublinzeln und das Rätsel zu lösen. Keine Ahnung, warum Bel das Ding mit sich rumgeschleppt hatte. Aber etwas musste es bedeuten. Hatte sie den Verlust des Spaniels nie verwunden? Hatte sie sich all die Zeit nach ihm gesehnt? Oder war es komplizierter? Hatte es etwas mit Mutter zu tun? Oder mit mir? Ich runzelte die Stirn. Schwankend stand ich auf dem Parkplatz. Bels Verständnis der Welt war im besten Falle ein byzantinisches. Da waren oft komplexe Mechanismen am Werk; zum Beispiel waren für sie gewisse Dinge Zeichen oder standen für andere Dinge. Doch Tatsache war, dass uns hier ein Hund auf dem Silbertablett präsentiert wurde - kein Spaniel, zugegeben, und kleinere chirurgische Eingriffe waren wohl auch vonnöten. Dennoch, angesichts der schicksalhaften Qualität, die der Abend bislang zu bieten gehabt hatte, wäre es mir nachlässig erschienen, diese Tatsache einfach zu ignorieren.
»Charlie? He, Charlie, was soll das?«
Es lag auf der Hand, dass ich jetzt keine Zeit hatte, Frank alles zu erklären.
»He, du willst ja wohl dieses nasse É nasse Dingsda nicht in meinen Lieferwagen É«
»Talisman«, sagte ich ächzend. »Bringt Glück É symbolischÉ beißt vielleicht Harry É«
»Wuff!«, wuffte An Evening of Long Goodbyes.
»Wuff, jawoll. Jetzt machen wir eine kleine Spritztour mit Franks Wagen, was, mein Alter?«
»Scheiße!«, sagte Frank, als er die Hecktüren aufmachte und ich den Hund im Laderaum verstaute, wo er sich friedlich auf einem Haufen Altardecken und Priestergewänder zusammenrollte, die Frank aus einer Kirche hatte, die zu einem Schuhladen umgebaut wurde. »Was soll das, Charlie? Du bringst ihr den Hund mit, und dann verzeiht dir Bel, dass du diese einbeinige Pussy geknallt hast?«
»Würdest du bitte damit aufhören, dieses Wort zu benutzen. Knallen ist wirklich eine äußerst widerliche Bezeichnung dafür.«
»Na ja, dann eben vögeln.«
Ich dachte darüber nach. »Okay«, sagte ich. Ich betrachtete den Hund, der uns liebenswürdig ankeuchte. Dann schloss Frank die Türen und sagte: »Also, der Name, An Evening of Long Goodbyes, das hört sich derart lahmarschig an. Wir sollten ihm einen anderen geben. Hab schon gedacht, dass er vielleicht deshalb so langsam ist, weil er diese Latte von Wörtern hinter sich her schleppen muss.«
»Ja, möglich. Egal, ich hab schon einen im Kopf É Osymandias.«
»O-sy-man-dias?«
»Ja, das Gedicht. Osymandias, König der Könige: Seht, ihr Mächtigen, dies ist mein Werk und so weiter und so weiter. Den Rest hab ich vergessen. Hat was Erhabenes, meinst du nicht auch? So eine Präsenz.«
»Weiß nicht, Charlie. Hört sich ein bisschen schwuchtelig an.«
»Ein bisschen schwuchtelig?«
»Na ja, ein bisschen.«
»Was würdest du vorschlagen?«
»Wie wärÕs mit Paul?«
»Paul? Du kannst doch einen Hund nicht Paul nennen. Wie bist du denn da drauf gekommen?«
»Hatte mal einen Kumpel, der hieß Paul.«
»Ich auch«, sagte ich. Eine Sekunde lang schauten wir beide versonnen. »Tja, stimmt schon, er hat so was Paulmäßiges. Aber vielleicht lassen wir das erst mal. Bel hat wahrscheinlich ihre eigenen Vorstellungen.«
Wir stiegen ein. Frank verstaute unseren Gewinn im Handschuhfach und ließ den Motor an.
»Schon komisch, wenn man denkt, dass sie jetzt wegfährt, oder, Charlie?«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, das wird ihr ganz gut tun da drüben.« Denn mit den Bildern der im Fenster an mir vorüberziehenden Stadt und dem Wissen um das viele Geld im Handschuhfach stellte sich das Gefühl ein, dass immer noch genügend Zeit war, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, die Uhr zurückzudrehen und alte Wunden zu heilen. Der Abend erschien mir grenzenlos und zum Bersten voller Möglichkeiten. Alles glitzerte feucht und sah aus, als sei es gerade erst zum Leben erwacht. »Ja, hallo, wer ist denn das?« Eine lange braune Nase zwängte sich durch die beiden Sitze und bedachte uns mit einem Hundelächeln.
»Wuff!«, sagte er, als wir gerade auf die Autobahn fuhren und Frank Gas gab.
»Was sagt er, Charlie?«
»Er sagt ÝVorwärts! Nicht zurückbleiben, Freunde!Ü.«
»Wuff!«
»Genau, alter Junge«, sagte ich lachend und kraulte ihm die Schnauze. »Genau.«

Fünfzehn
Die Aufregung hatte mich anscheinend so ausgelaugt, dass ich unterwegs einnickte. Ich hatte einen höchst merkwürdigen Traum, in dem wir alle von einer fürchterlichen Lawine verschüttet wurden. Doch als ich wieder aufwachte, standen wir vor dem alten Haus und die Lawine war lediglich Franks knurrender Magen gewesen.
Ich weiß nicht, wen Mutter so spät noch erwartet hatte, aber sie schien überrascht, als sie die Tür öffnete und mich da stehen sah. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.06.2006