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Wenn ich voll war, wusste ich wenigstens, woran ich war. Und um das zu schaffen, brauchte ich von niemandem Ratschläge. Zur Hölle mit Frank und der lausigen Dinnerparty, auch Bel konnte von mir aus zur Hölle fahren. Sollte sie doch abhauen, wenn sie unbedingt wollte, sollte sie doch den einzigen Menschen fallen lassen, der sich wirklich um sie sorgte, der sie nicht für einen ambulanten Dauerpatienten mit unerfüllbaren Träumen hielt.
Die Zocker brüllten voller Qual.
»Hört sich an, als kriegt einer richtig was aufs Maul«, bemerkte der weißhaarige Herr neben mir.
»Einer kriegt immer was aufs Maul«, brummte ich, ohne den Kopf zu heben.
»Tja, stimmt wohl«, sagte der Herr.
Ich schaute zur Seite. Ich konnte kaum etwas sehen, wegen des Rauchs, außerdem drehte sich der Raum. Als ich die Augen zusammenkniff, erkannte ich einen Kammgarnanzug, gut geschnitten, ein wenig altväterlich vielleicht, und eine Nickelbrille. Ich fragte mich, was er unter all dem Pöbel zu suchen hatte. Er bedeutete dem Mädchen hinter der Bar, unsere Gläser aufzufüllen, und sagte, als ob er meine Frage erraten hätte: »Gelegenheiten, die sich einem bieten, muss man beim Schopf packen, oder nicht?«
»Wüsste nicht, warum«, sagte ich und klackerte mit den Eiswürfeln in meinem Glas.
»Komm schon, Charles«, sagte er und lachte leise. »Du weißt, warum.«
Der Raum schien zu schlingern, und von den Zehen aufsteigend durchflutete ein kochend heißes Prickeln meinen Körper. Im selben Augenblick brüllte die Menge wieder, und die Zocker an der Bar eilten zum Fenster. Irgendwie war ich mit nach vorn gerissen worden, stellte mich auf die Zehenspitzen und lugte mit verschleierten Augen über die Köpfe hinweg.
Es hatte den Anschein, als habe Celtic Tiger, nachdem er seinen Feind bezwungen hatte, das Rennen nicht wie ein vernünftiger Hund beendet, sondern stattdessen seine Aufmerksamkeit der kläglichen, sich hundert Meter hinter ihm zusammendrängenden Meute zugewandt.
»Gottverdammte Scheiße«, heulten die Zocker und umklammerten ihre Köpfe, während die feige Meute floh und Celtic Tiger hinter ihnen her jagte. »Da lang, du Pisser! In die andere Richtung.«
»Zu viel Angel Dust«, erläuterte der neben mir stehende Zocker, ein Mummelgreis mit Stoppelbart und lebensmüden Augen.

A
ber das war nicht alles. Auf der anderen Seite der Bahn - weit weg von der Stelle, wo die Ordner mit einer Eisenstange Celtic Tiger aufzuhalten versuchten - gab An Evening of Long Goodbyes wieder Lebenszeichen von sich. Weil jeder die Bemühungen verfolgte, den fahnenflüchtigen Favoriten zur Fortsetzung des Rennens zu bewegen, fiel das zunächst niemandem auf. Bis eine einzelne Stimme schrie: »He! Die fette Töle ist noch gar nicht tot!«
Kurz herrschte Stille, dann setzte kollektive Hektik ein. Jeder schaute im Rennprogamm nach der Startnummer, dann skandierten aus verschiedenen Ecken der Menge einzelne Stimmen den Namen: An Evening of Long Goodbyes! An Evening of Long Goodbyes!
Er schlug mit dem Schwanz einmal, dann ein zweites Mal auf den Boden.
Weitere Stimmen. Die Anfeuerungsrufe wurden lauter. An Evening of Long Goodbyes! An Evening of Long Goodbyes!
Langsam, qualvoll langsam, rappelte der Hund sich auf. Die Beine schwach und unbeholfen wie die eines neugeborenen Kalbs, das regennasse Fell verklebt am knochigen Kopf, so stand er da und blinzelte uns verwundert an.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Männer schrien, trommelten gegen das Fenster, stampften mit den Füßen. »Jawoll!«, gröhlten sie. »Los, du Penner, lauf! Komm schon, Long Goodbyes!« Wir brüllten im Chor, als sei jeder Einzelne von uns nur deshalb gekommen, um diesen zerfleischten und ziemlich krätzigen Hund anzufeuern. Der höllische Lärm, die Energie, die von dem Krach ausging, schienen ihm neue Kraft zu geben. Als Celtic Tiger von zwei Männern mit Knüppeln in einen Käfig bugsiert worden war und der Jubel zum Orkan anschwoll, wackelte er mit dem Schwanz, setzte sich langsam in Bewegung und trottete der Ziellinie entgegen.
»Sprezzatura«, sagte eine Stimme in meinem Ohr. Ich schaute mich um und sah zwischen den Säulen aus Rauch, inmitten der wogenden Menge, eine diffuse graue Gestalt, die mir bekannt vorkam. »He?«, sagte ich schwach. Die Gestalt lächelte geheimnisvoll und deutete zum Fenster. Ich schaute mich wieder um und sah ein Stadion voller Männer, die Zylinder und Frack, schwarze Fliege und Nelke im Knopfloch trugen, und die alle dem Hund zujubelten, gegen den sie gewettet hatten. Und während ich den Blick über die Menge schweifen ließ, sagte die versonnene Stimme hinter mir: »Wie hat Oscar immer gesagt? In einer guten Demokratie sollte jeder Mensch Aristokrat sein.«

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ch drehte mich um - es gab noch so viel, das ich ihn fragen wollte, es gab so viele Dinge, die ich nicht verstand. »Warte!«, schrie ich. »Komm zurück!« Aber er war schon fast an der Tür, als er sich etwas auf den Kopf setzte, was wie ein riesiger Sombrero aussah, und schließlich im Gedränge verschwand. Auf der Bahn schaffte es An Evening of Long Goodbyes, nachdem er unterwegs mehrere Male dramatisch kollabiert war, seinen Kadaver über die Ziellinie zu schleppen. Die Zuschauer rasteten aus. Es war, als hätten wir gerade einen Krieg gewonnen. Die Leute juchzten und sangen, sie zerrissen ihre Verlierertickets und warfen sie in die Luft wie Konfetti. Plötzlich stand Frank lachend vor mir und schloss mich in die Arme. »Drin der Fisch, Charlie!«, rief er. »Drin der Fisch!«

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emand musste ihn gehört haben, denn bevor ich ihn noch auf seine lückenhaften Kenntnisse der Fauna hinweisen konnte, hatte man uns schon in die Höhe gehoben, und ein Meer von fremden Händen reichte uns bis zum Auszahlschalter durch. Der Angestellte schloss sich rasch unserer Meinung an, dass es von schlechtem Stil zeuge, das Rennen für ungültig zu erklären, und zahlte den Gewinn auf der Stelle aus. Alle applaudierten, und Frank fragte, ob jemand einen Drink wolle, was fast alle bejahten. In der atemlosen Euphorie dauerte es eine Zeit, bis ich dieses irritierende Piepsgeräusch lokalisieren konnte. Schließlich begriff ich, dass es Bels Handy war, das da piepste. Ich hatte es ihr eigentlich heute Abend geben wollen. Das Gerät spielte eine Art nervöser Melodie. Ich drückte ein paar Knöpfe, worauf sie verstummte und das Gerät anfing, zu mir zu sprechen. Es war die Stimme eines Mädchens, das mit Bel sprechen wollte.
»Sie ist nicht hier!«, brüllte ich, während ich den Finger ins andere Ohr steckte. »Sie ist zu Hause.«
»Da meldet sich niemand«, sagte das Mädchen.
»Da läuft gerade eine Dinnerparty, vielleicht hörtÕs keiner«, sagte ich.
»Na ja, egal. Könnten Sie ihr was ausrichten?« Das Mädchen hatte eine heisere, raue Stimme, als hätte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, zu viele Zigaretten zu rauchen. »Sagen Sie ihr bitte, dass Jessica É«
»Moment, Sie sind Jessica?«, unterbrach ich sie.
»Ja, bin ich, mein Ruf scheint mir ja vorauszueilen.«
»Und ob er das tut«, sagte ich bestimmt. »Darf ich Sie fragen, was das soll, einfach so mit meiner Schwester durchzubrennen?«
»Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich mit irgendwem durchbrenne«, sagte das Mädchen. »Mit wem spreche ich eigentlich?«
»Charles«, sagte ich.
»Oh«, sagte sie. »Bel hat mir von Ihnen erzählt«, fügte sie ziemlich spitz hinzu.
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte ich. »Tatsache ist, dass Bel nicht in der Lage É Moment mal, was soll das heißen? Was hat sie Ihnen über mich erzählt?«
»Och, alle möglichen Sachen«, sagte Jessica ziemlich aufgekratzt. Als hätte sie bis eben nichts von all den Sachen geglaubt.
»Nun ja, wie auch immer«, brummte ich verlegen. »Also, die Sache mit Bel ist É«
»Gehen Sie nicht zu dem Dinner?«, unterbrach sie mich. »Stehen Sie etwa auf der schwarzen Liste?«
»Doch, doch, natürlich geh ich hin«, blaffte ich sie an. »Was ist, geben Sie mir jetzt die verdammte Nachricht oder nicht?«
»Sicher«, sagte sie steif. Der Flug ginge morgen früh um sieben, und ob Bel sich für vier ein Taxi bestellen und sie dann von zu Hause abholen könne? Ich sagte, ich würde es ausrichten. Es entstand eine Pause, und gerade als ich den Knopf zum Ausschalten suchen wollte, sagte die Stimme: »Charles?«
»Ja?«
»Ich glaube nicht, dass Bel das alles so meint, was sie über Sie erzählt.«
»Mmm«, sagte ich vieldeutig.
»Und noch was, Charles.«
»Ja?«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich gut auf Bel aufpassen werde in Russland.«

O
h.« Ich war ziemlich gerührt. Möglich, dass sie sich lustig machte über mich, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich das nicht. Da war eine Wärme in ihrer Stimme, die war in der Tat ziemlich anziehend. »Tja, danke.«
»Und Sie machen sich jetzt besser auf den Weg zu diesem Dinner, sonst liegen die alle schon Bett«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich. Und dann: »Wenn Sie wieder da sind, vielleicht könnten wir mal zusammen was trinken gehen oder so. Ich habe gerade ein Stück geschrieben, da ist eine Rolle drin, die könnte Sie vielleicht interessieren É.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.06.2006