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Sei nicht albern.« Ich zupfte an meinen Manschetten. »Verdammt, warum ist es so heiß hier drin? Findest du nicht auch, dass es drückend heiß ist? Bestell mir doch bitte noch einen Manhattan.«
»Ist vielleicht besser, Charlie, wenn du nicht auch noch so viel Alkohol draufkippst.«
»Kein Wort mehr davon! Mir gehtÕs bestens; außerdem kann ich mich dann besser konzentrieren. Also, kein Wort mehr.«
Frank zuckte mit den Achseln, steckte den Stift zwischen die Zähne und ging das nächste Rennen durch, während ich nach der Kellnerin schnippte. »Also É wie wärÕs mit HowÕs Your Billabong, acht zu eins É McGurks Mutual Finance Limited, fünf zu eins É Nee, hier É Shit Creek, Favorit mit neun zu zwei. Shit Creek, ha, ha.«

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ou Tore Me Down lief alles in Grund und Boden, desgleichen Shit Creek. Frank kreischte vor Freude und ging zum Schalter, um den Gewinn abzuholen. Ich sah auf die Uhr über der Bar. Sie waren jetzt gerade mit der Suppe fertig. Ob Bel sich fragte, wo ich blieb? Oder war sie froh darüber, dass ich nicht da war?
»Weißt du noch, Charlie, letztes Mal?« Frank setzte sich freudestrahlend auf seinen Stuhl, das frische Geldbündel hielt er noch in der Hand. »Mit Bel, Riesenspaß war das, stimmtÕs?«
»Mmm.«
»Das war, als sie unbedingt die Rolle in diesem Stück haben wollte«, sagte er versonnen. »Weißt du noch? Scheiße, sie war völlig weg deswegen. Als sie ihr gesagt haben, dass es nichts wird, hab ich gedacht, jetzt hängt sie sich auf, so abgefahren war sie da drauf.« Er schichtete das Geld zu einem kleinen Stapel auf, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ die Arme über der Rückenlehne herunterhängen.

»Verfluchter Tschechow«, murmelte ich.
»Warum war sie da bloß so scharf drauf? Haufen Russen latschen in ihrem bescheuerten Obstgarten rum und wollen sich gegenseitig flachlegen. Kapier ich nicht, dass sie da so wild drauf war. Weißt du, warum?«
»In dem Stück hat sie schon in der Schule mitgespielt«, grummelte ich in meinen Manhattan. »Hat dauernd den Text vergessen.«

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undert mich nicht. Weiß nicht, früher, da war das vielleicht ganz gut, ich meine, bevor sie Special Effects hatten und so was. Aber heute, ist doch nur scheißlangweilig. Den bescheuerten Kirschgarten, den kann man ja noch nicht mal sehen. Na ja, war jedenfalls nicht mein Ding.«
Ich blendete ihn aus und betrachtete das Schauspiel der am Tribünendach entlangzuckenden Blitze. Die Aristokratenfamilie kehrt auf ihr altes Gut zurück É jetzt fiel es mir wieder ein É Es soll verkauft werden, aber sie tun nichts dagegen. Ich weiß noch, dass ich sie ziemlich mochte, diese faule, liebenswerte Bande, immer gut drauf, trotz allem. Ich weiß noch, dass ich dachte, das ist der richtige Geist, lächeln, nur nicht unterkriegen lassen É
»Dauernd hat sie da drüber geredet«, sagte Frank. »Hat mich sogar dazu gebracht, dass ich diese eine Scheißrede da lerne, ganze Seite war die lang. Wie ging die eigentlich noch mal?«

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s war Frühling. Vater war nicht zu Hause, also musste ich mit Mutter hin. Wir saßen in der eiskalten Aula auf Stühlen mit harten Rückenlehnen; Dutzende teurer Parfümdüfte vermischten sich mit den intensiveren älteren Schulgerüchen von Weihnachtsprüfungen und Doppelstunden Sport, von Morgenversammlungen und »All Things Bright and Beautiful«; zappelige Kinder flüsterten, Eltern umklammerten die kopierten Programmblätter; Mutter saß mit kerzengeradem Rücken links von mir und sprach stumm den Text mit, wenn Bel auf der Bühne war - sie spielte ein altes Hausmädchen, das sich dauernd Sorgen machte und herumnörgelte und darauf wartete, dass ein anderes Mädchen mit Haarnetz und falschem Schnurrbart ihm den Hof machte É
»Überlegen Sie, Anja!« Franks dröhnende Stimme hob mich fast vom Stuhl. »Ihr Großvater, Urgroßvater und all Ihre Vorfahren hatten Leibeigene, sie herrschten über lebende Seelen, und sieht denn nicht von jedem Blatt, von jedem Stamm ein menschliches Wesen auf Sie herab, hören Sie denn nicht die Stimmen É«

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nd dann wusste sie ihren Text nicht mehr. Wie war das möglich? Die letzten zwei Wochen hatte sie nichts anderes getan, als mit einem Handtuch über dem Kopf im Haus herumzulaufen und wie Franny Glass unablässig vor sich hin zu murmeln. Die erste Hälfte des Stücks hatte sie doch auch geschafft, locker und ohne jeden Hänger. Und jetzt stand sie in der Mitte der Bühne, den Mund halb offen, die Arme ausgestreckt wie eine Klofrau auf der Männertoilette, die auf jemanden wartete, dem sie ein Handtuch geben konnte, und hatte offensichtlich keine Ahnung, wie es weiterging É
»Und sieht denn nicht von jedem Kirschbaum im Garten ein menschliches Wesen auf Sie herab?«

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s dauerte nicht lange, bis das Publikum kapierte und erstes Gekicher und Getuschel seitens der jüngeren Zuschauer vernehmbar wurde. Ich wand mich innerlich, spürte mein Gesicht heiß werden und wünschte, ich hätte den Mut, als Deus ex Machina auf die Bühne zu springen, Bel aus dem elenden Stück zu befreien und mit ihr in die Nacht zu verschwinden. Jemand, wahrscheinlich ein Lehrer, zischte ihr aus den Kulissen die Textzeile zu, doch sie schien ihn nicht zu hören. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos stand sie regungslos da und rührte sich nicht vom Fleck. Die Schauspieler versuchten die Szene um sie herum weiterzuspielen, was jedoch unmöglich war; es war grotesk, die Leute amüsierten sich über das Spektakel, sie lachten schallend, als der Lehrer ein zweites Mal die Textzeile zischte. Als daraufhin hastig der Vorhang heruntergelassen wurde, brandete höhnischer Applaus auf, während Mutters Hände vollkommen ruhig und weiß auf ihrer Handtasche ruhten É
»Es ist doch so klar«, fuhr Frank fort. »Um ein Leben in der Gegenwart zu beginnen, müssen wir zuerst unsere Vergangenheit sühnen, mit ihr Schluss machen É«
»Jetzt lass mal gut sein«, flüsterte ich. »Sei ein braver Junge.«

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interher war sie außer sich gewesen. Mutter, meine ich. Obwohl sie schon nach fünf Minuten weitergespielt hatten und Bel, was ihr meiner Meinung nach zur Ehre gereichte, zwar wackelig, aber ohne weiteren Hänger bis zum Ende durchgehalten hatte. Zudem waren derartige Zwischenfälle wohl ohnehin eine Art Berufsrisiko. Mutters Vorwürfe waren also völlig grundlos gewesen, und wenn Sie mich fragen, war es kein Zufall, dass Bel am nächsten Tag so krank geworden war, dass der Arzt hatte kommen müssen É
»É und sühnen können wir sie nur durch Leiden É«

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ngefangen hatte alles mit dem Ärger vor der Aufführung. Die Schreierei und das zerdepperte Geschirr hätte jeden aus dem Konzept gebracht, und als Vater nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war, waren wir kochend und vor uns hin schweigend zur Schule gefahren. Damals hatte alles angefangen, das mit ihrer Krankheit und den Ärzten und dann auch noch das mit Vater; zwei Jahre weiße Kittel, kein Schlaf, Medikamente mit unverständlichen Namen und schmerzende Kinnladen, weil alle die ganze Zeit mit zusammengebissenen Zähnen herumliefen. Mit diesem teuflischen Stück hatte alles angefangen. Warum musste sie immer wieder darauf zurückkommen?Warum konnte sie nicht einfach die Finger davon lassen?
»É durch außergewöhnliche, ununterbrochene Arbeit É«
»Verflucht.«
»Vorwärts! Nicht zurückbleiben, Freunde!«
»Jetzt reichtÕs!« Meine Hand knallte derart hart auf den Tisch, dass der Aschenbecher in die Luft hüpfte und auf den Boden krachte.
»Mann, Charlie, ist doch bloß Spaß.«
»Tut mir Leid«, sagte ich schroff und schüttete meinen Drink hinunter.
»Jetzt mal ernst, Charlie, alles okay mit dir?«
»Nein«, sagte ich elend. Wie konnten sie sie nur einfach so gehen lassen, ohne etwas zu sagen? Wie konnten sie nur so tun, als wäre alles in Ordnung, und zulassen, dass sich alles wiederholte, nur damit sie sie aus dem Weg hatten?
»Du brauchst was in Õn Magen, dann gehtÕs dir gleich besser«, sagte Frank. Er bat das Mädchen, das die Scherben des Aschenbechers zusammenkehrte, zehn Päckchen Erdnüsse zu bringen.

I
ch atmete abgehackt. Ich fühlte mich klein und verbraucht. Ich wollte nicht mehr daran denken. »Wie viel kriegt der eigentlich von uns?«, sagte ich und zeigte auf den Geldhaufen. Frank stellte ein paar Kopfrechnungen an und fing dann an, einen Bierdeckel vollzukritzeln. Bei dem Tempo dauert das die ganze Nacht, dachte ich mutlos, und bis dann wäre sie weg, verschwunden in der endlosen Schneewüste.
Die mechanische Stimme kündigte das nächste Rennen an. Ich ging zur Bar, bestellte für Frank ein Guinness und für mich einen trockenen Martini, plus einem Calvados für die Wartezeit. Der Himmel war inzwischen so weit aufgeklart, dass ein Sternenpaar zu sehen war - ein tröstlicher Anblick. Ich kehrte zum Tisch zurück, wo mich Frank mit merkwürdigem Gesichtsausdruck empfing. »Hier, schau«, flüsterte er.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.06.2006