23.06.2006
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Es regnete noch immer. Das Wasser tropfte von der Festbeleuchtung, dem Glitzerschmuck und den Lampions, die zwischen den Laternenpfählen aufgespannt waren. In den Straßen wimmelte es von drängelnden Regenschirmen. Trotz der frühen Stunde und des Wetters wälzte sich die mit Weihnachtseinkäufen beladene Menschenmenge durch die Hauptverkehrsstraße. In den Auslagen der Kaufhäuser lockten Küchengerät, elektronischer Schnickschnack und umwerfende, in prächtiges Tuch gehüllte Schaufensterpuppen. Die chaotische und unwirkliche Atmosphäre machte mich so wirr, dass ich vergaß, nach wem ich suchte. Überall sah ich Bels Gesicht. Dauernd dachte ich, dass all die Leute, die hier durch den Royal Hibernian Way hechelten, es nur deshalb so eilig hatten, weil sie es rechtzeitig zur Dinnerparty heute Abend schaffen mussten; dauernd hatte ich den Smoking vor Augen, der an der Tür in meinem Zimmer auf mich wartete.
Und dennoch konnte ich Frank, den ich wie verabredet, an einem Crêpe kauend, um ein Uhr an der Statue der Frau mit dem Fischkarren und dem tiefen Dekolleté traf, kategorisch versichern, dass Droyd sich nach umfassender Überprüfung des südlichen Innenstadtbereichs definitiv nicht im Conrad, im Westbury oder im JuryÕs Inns aufhalte und sich auch während des ganzen Morgens nicht im TipTopKrawatte habe blicken lassen. Als ich ihm das berichtete, nahm sein Gesicht eine merkwürdige Farbe an. Ich bot ihm einen Bissen von meinem Crêpe an; vielleicht hatte er Hunger.
»TipTopKrawatte?«, sagte er laut. »Warum, zum Henker, sollte er ins TipTopKrawatte?«
»Weiß nicht«, sagte ich. »Ich dachte, vielleicht kauft er sich für das geklaute Geld eine Krawatte.« Das TipTopKrawatte schien mir genau der Laden zu sein, wo sich ein Typ wie Droyd seine Krawatten kauft.
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I
Die Strecke, die wir jetzt abgingen, konnte sich - kartografisch gesehen - von der, die ich am Vormittag schon ausgiebig unter die Lupe genommen hatte, kaum unterschieden haben. Und doch kam es mir vor, als befände ich mich in einer anderen Stadt, in einer, die jenseits der mir bekannten glänzenden Fassade existierte. Diese Stadt bestand aus Sackgassen und Seitenstraßen voller Müllsäcke, deren Bewohner im permanenten Gestank von Urin und Verfall lebten und die man erst mit der Fußspitze anstoßen musste, bevor man sie nach Droyds Aufenthaltsort fragen konnte. Manche waren zu berauscht, um überhaupt sprechen zu können; manche versuchten, einem irgendwelche Geschichten aufzutischen, in der Hoffnung auf ein bisschen Kleingeld. Manche reagierten nicht auf das Anstoßen, und wir mussten sie auf den Rücken drehen, damit wir in ihre verdreckten Gesichter sehen konnten, um sicherzugehen, dass wir nicht Droyd vor uns hatten. Die schiere Menge dieser elenden Menschen war unglaublich. Als wir zurück zur Grafton Street gingen, fiel mir auf, dass diese Menschen schon immer hier gewesen waren, dass sie hier schon immer ihre drogenverseuchten Leben gelebt hatten. Sie kauerten vor Geldautomaten auf dem Boden, lungerten in verdächtig aussehenden Gruppen um Mülltonnen herum, redeten wirr auf hastig vorbeieilende, sich taub stellende Angestellte ein oder geisterten einfach mit starrem Blick herum, hielten Plastikbecher von McDonaldÕs in der Hand oder Pappschilder, deren Botschaften von Rechtschreibfehlern wimmelten.
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Wir gingen langsam zu den Kais zurück und nahmen von dort den Bus nach Bonetown. Wir saßen auf dem Oberdeck. Frank starrte geradeaus und machte die gleichen Kleintiergeräusche, die er machte, wenn er seinen Lottoschein ausfüllte.
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»Ach, egal«, sagte Frank und ließ sich in den Sessel fallen. »Wenn ich bloß die Kaution schon wiederhätte!« Sie errötete plötzlich. »Diese blöde Immobilienmaklerin will das Geld nicht rausrücken, Frank!«
»Das passt«, sagte Frank mit leerer Stimme. »Und ob das passt. Jetzt sind wir endgültig am Ende.«
Ich schüttelte fatalistisch den Kopf. »Plus ça change«, sagte ich. »Plus cÕest la même chose.«
»Könntest du bitte einmal, Charlie, dein Scheißfranzösisch bleiben lassen?«
»Sicher«, sagte ich verständnisvoll. »Kein Problem.«
Es gab nichts mehr zu tun für mich.
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»Ich weiß, wo er ist«, sagte er.
»Ach?«, sagte ich und zog den Knoten wieder auf. »Laura, kannst du mir mal eben mit dem Ding hier helfen?«
»Er ist bei Cousin Benny«, sagte Frank. »Sicher. Das ist der einzige Laden, wo er noch sein kann.«
»Ah, der berüchtigte Cousin Benny.« Laura hielt mein Kinn hoch und zupfte den Kragen gerade. »Grüß ihn schön von mir, wenn du ihn sehen solltest. Und er braucht sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen - wegen dem Überfall, mein ich É«
»Charlie«, sagte Frank. »Ich brauch dich dabei.«
»Mich?«, sagte ich.
»Ich kann da nicht alleine hin. Das ist Õne üble Ecke, da brauch ich Verstärkung.«
»Ich würde dir ja gern unter die Arme greifen, alter Junge, aber ich kann einfach nicht. Ich muss zu der Dinnerparty, Mutter kriegt Zustände, wenn ich zu spät komme«, sagte ich weinerlich. »Ist schon schlimm genug, dass ich keine Tischdame mitbringeÉ« Warum, zum Teufel, wollte er mich überhaupt dabeihaben? Hatte er keine Ahnung von meiner Bilanz bei derartigen Händeln? Und was, bitte schön, verstand man in Bonetown unter einer üblen Ecke? Während Laura mir die Schleife band, schaute sie mir mit ihren kühlen grünen Augen mitten ins Gesicht.
»Scheiße«, sagte ich.
»Genau«, sagte Frank und ging entschlossenen Schritts durch die Tür. Laura zog die Fliege fest, und dann spürte ich, wie mir etwas in die Hand gedrückt wurde. Es war der unbespannte Dunlop-Tennisschläger.
Artikel vom 23.06.2006