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Er legte kurz die Hand an die Stirn. »Oh, Scheiße.« Dann machte er sich ohne weitere Rücksprache aus dem Staub.
Als ich schließlich nach Hause kam, waren in der Wohnung schon Umwälzungen im Gange.
»Der Hausbesitzer!«, brüllte mir Laura, die sich ins Badezimmer zurückgezogen hatte, ins Ohr. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. »Er hat wieder wegen der Miete angerufen.«
Von nebenan war ein lautes Krachen zu hören. »Ich dachte, wir hätten die Miete bezahlt!«, brüllte ich zurück.
»Er sagt, dass er euch rausschmeißt!«, sagte Laura laut. Aufrichtig fluchend riss Frank dem grotesk unförmigen Sofa die Rückenlehne ab. »Verdammtes É Landei É Schwein É Dreckschwein É«
»Was macht er da?« Ich hielt mir die Ohren zu.
»Zerdeppert Sachen. Ist vielleicht besser, wenn du den Namen Droyd nicht erwähnst.« Sie senkte die Stimme, als plötzlich Franks Kopf hinter dem Sofa auftauchte. »Was ist mit Droyd?«, fragte er.
Sie hatte Recht: Die Neuigkeiten trugen nicht zur Beruhigung der Lage bei.
»Scheiße, Charlie«, jammerte er. »Das ist übel, das ist wirklich übel.«
»Ja, ja, ich weiß, kaum erfreut man sich wieder am Luxus des eigenen Gesichts, kriegt man schon eine geballert É«
»Wo ist er hin? Hat er gesagt, wo er hin ist?«
»Er hat mich überfallen, da war keine Zeit, um Höflichkeiten auszutauschen.«
»Aber É« Er raufte sich verzweifelt die Haaren. »Wie hat er ausgesehen?«

I
ch dachte darüber nach. »Ziemlich entschlossen«, sagte ich. »Hat sich ganz auf seine Arbeit konzentriert É«
»Nein, Charlie, ich meine, hat er ausgesehen, als ob er wieder drauf ist?«
Ich wusste nicht recht, worauf er hinauswollte, und noch bevor ich das Rätsel lösen konnte, war er schon in sein Zimmer verschwunden, kam eine Sekunde später mit einem grünweißen Strumpf zurück und sagte, dass das Geld weg sei.

E
igentlich war alles weg, die ganze Wohnung war ausgemistet. Franks Ersparnisse, alles Tragbare von Franks Schrott, das irgendeinen Wert besaß, sogar mein Sparschwein hatte der Mistkerl mitgehen lassen. Mir kam der Gedanke, dass der Raubzug angesichts seines Umfangs ziemlich Zeit in Anspruch genommen haben musste. Erst jetzt dämmerte uns, dass die Miete dieses Monats, des letzten und vielleicht sogar der Monate zuvor nie beim Hausbesitzer angekommen war. Frank ließ sich in den Sessel fallen. »O Gott.« Er stöhnte, als drückte ihm jemand die Kehle zu.
Das Telefon klingelte.
»Wenn ich jetzt so drüber nachdenke É die Geschichte von dem Hund, der ihn auf dem Weg zum Postamt angefallen und mit der Überweisung für die Stromrechnung abgehauen war É ziemlich unwahrscheinlich É«
Das Telefon verstummte kurz, fing aber gleich wieder an zu klingeln.

F
rank konnte die ganze Nacht nicht schlafen; ich wusste das, weil ich auch nicht schlafen konnte. Ich saß bei Kerzenlicht am Küchentisch und hörte ihn nebenan zwischen den Möbeln herumtrampeln wie eins von diesen schwerfälligen, antik aussehenden Säugetieren - wie ein Dreizehenfaultier oder ein fünfzehiges Schuppentier. Mein Stück lag zwar vor mir, doch irgendwelche Hoffnungen setzte ich nicht mehr darauf. Lopachin hatte gewonnen, Frederick wusste das und ich auch. Der Ruf des Weinguts war ruiniert. Lopachin hatte Frederick in scheinbar inniger Umarmung mit Babs fotografiert und das Bild der Presse zugespielt. Das Foto war natürlich eine Fälschung. Folgendes war tatsächlich geschehen: Babs hatte im Glauben, Frederick würde nie mehr zurückkehren, Lopachin die Hälfte des Anwesens überschrieben und sich dann in einem Anfall von Depression die Treppe hinuntergestürzt. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sie nicht überlebt, wäre Frederick nicht zufällig früher von der Konferenz der Korkenproduzenten heimgekehrt. Er fand Babs in der Diele auf dem Boden liegen und rettete ihr per Mund-zu-Mund-Beatmung das Leben. Doch in den Händen Lopachins und seiner ordinären Zeitungsfreunde ruinierte diese arglose Tat Fredericks Namen genau an jenem Tag, als er der notorisch konservativen französischen Weinindustrie seinen neuen Spitzenburgunder präsentieren wollte. Die teuflische Bösartigkeit von Lopachins Komplott schien ihn so geschockt zu haben, dass er in eine Art Betäubungszustand verfiel. Er saß den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer, klebte Weinetiketten in sein Notizbuch oder spielte Backgammon mit den Bosniern, als wolle er nur noch seine Zeit absitzen bis zum unausweichlichen Ende. Es war deprimierend. Ich weiß nicht, warum ich das Stück nicht einfach wegwarf und ins Bett ging. Vielleicht hoffte ich, einfach durch mein Wachbleiben die dunkle, verregnete Welt anhalten zu können und so vom morgigen Schicksalstag verschont zu bleiben.
Plötzlich stand Laura in der Tür, im Schlafanzug. »Warum bist du noch auf?«, fragte sie. »Geh ins Bett, das bringt doch nichts, wenn ihr euch beide Sorgen macht?«
»Ich mache mir keine Sorgen wegen Droyd.«
»Nicht?«, sagte sie und ging an mir vorbei zum Kühlschrank.
»Wenn du mich fragst, sollten wir dankbar sein«, sagte ich leise, damit Frank mich nicht hören konnte. »Man muss schon ein besonders abgefeimter Lump sein, um einem Mann das Sparschwein zu klauen.«

M
achst du dir Sorgen wegen Bel?« Sie machte die Kühlschranktür auf, und ein akurates Lichtrechteck öffnete sich über ihrem Gesicht wie eine leere Seite. Ich wollte ihr gerade antworten, hielt jedoch inne. Aus irgendeinem Grund war mir entfallen, auf welch schlichte, nüchterne Art sie schön war. Und für einen Augenblick erfüllte mich die alte Sehnsucht, dass ich nur mit den Augen zu blinzeln bräuchte, und schon würden wir beide in eine andere, nicht so widerborstige Welt versetzt, eine Welt, die dieser Art Schönheit angemessen war. »Du solltest dich freuen«, sagte sie und schenkte sich ein Glas laktosefreie Schokoladenmilch ein. »Das ist die Chance ihres Lebens. Wo sie doch so drauf abfährt, auf diese Schauspielerei und so.«
»Ich freu mich ja auch«, sagte ich wenig überzeugend und fragte dann: »Übrigens, erinnerst du dich an ein Mädchen aus eurer Klasse, Kiddon, Jessica Kiddon?«
Laura dachte darüber nach, wobei sie den Namen leise vor sich hin sagte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Wer ist das?«
»Das Mädchen, das mit Bel nach Jalta fährt«, sagte ich mit gerunzelter Stirn. »Sie soll in Bels Klasse gewesen sein, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihr Bild in irgendeinem von den Jahrbüchern gesehen hätte.«
»Die Schule ist so groß, Charles, wer kann da schon ein ganzes Jahrbuch im Kopf behalten.«
»Hmm.« Ich räusperte mich zweideutig.
»Kein Grund sich Sorgen zu machen. Sie kommt sicher bestens zurecht.« Sie stand jetzt hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter. »Charles«, sagte sie sanft. »Du kennst doch diesen Spruch É wen man liebt, den soll man freigeben. Der war in dieser Eiscremewerbung, die mit dem sprechenden Bären.«
Ihre Finger fuhren über meinen Nacken. Ich senkte den Kopf und schloss die Augen. In der Küche war nur noch der gegen die Fensterscheiben trommelnde Regen zu hören.

H
at ganz den Anschein, als hätte jemand was gegen uns«, sagte sie wie zu sich selbst. Dann schnalzte sie plötzlich mit den Fingern, ging um den Tisch herum und schaute mich an. »Jetzt weiß ich endlich, wem du ähnlich siehst«, sagte sie.
»Was?«, sagte ich verwirrt.
»Ohne den Verband. Das macht mich wahnsinnig, seit du aus dem Krankenhaus gekommen bist. Das Bild, du sieht genauso aus wie der auf dem Bild in euerm Haus.«
»Welches Bild?«, fragte ich. »Wir haben haufenweise Bilder.«

N
a ja, das mit diesem Kerl. In der Halle. Du siehst genauso aus.« Offenbar erfreut über diese Entdeckung, fing sie an zu lachen, verstummte aber sofort, als Frank in die Küche platzte. Er schaute uns mit wildem Blick an und sah völlig erledigt und irgendwie prähistorisch aus, wie einer von diesen gefrorenen Höhlenmenschen, die sie ab und an im Eis finden.
»Charlie«, sagte er. »Es gibt was zu tun.«
Ich glaubte, er wolle nun endlich die Behörden einschalten, und machte mich im Geiste schon an die Auflistung der gestohlenen Güter. Aber das meinte er nicht. Er wollte, dass wir uns auf die Suche nach Droyd machten.
»Das ist nicht dein Ernst!«, sagte ich.
»Wir können ihn nicht einfach da draußen lassen«, sagte er. »Es regnet, es ist saukalt, und der Kleine irrt da draußen rum.«

I
ch protestierte. Und ich wies darauf hin, dass wir allen Grund hätten, ihn da draußen herumirren zu lassen. Er hatte uns angelogen, hatte uns hinters Licht geführt, hatte uns drei Monatsmieten gestohlen, hatte im Grunde den Gesellschaftsvertrag zwischen uns aufgekündigt, ganz zu schweigen von der Sache mit dem Sparschwein É
»Scheiß auf dein Sparschwein!«, sagte Frank aufgebracht. »Wer soll denn nach ihm suchen, wenn nicht wir? Wir müssen ihn finden, sonst landet er ruckzuck wieder im Knast.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.06.2006