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Geh nur noch kurz raus, Õn bisschen Fußball spielen«, sagte Droyd, als es über dem Dach gerade gewaltig donnerte.
Erst dachte ich, dass Frank ihn nicht gehört hätte. Er schaute die ausgemergelten Burschen lange und eingehend an. Dann sagte er: »Nein.«
Droyd flüsterte seinen Kumpels etwas zu, die sich daraufhin umdrehten und die Treppe hinunterschlurften. Dann wandte er sich wieder Frank zu. »Was ist?«
»Ich will nicht, dass du mit denen rumhängst«, sagte Frank.
»Was?«, sagte Droyd. »Warum nicht?«
»Das ist Abschaum«, klärte Frank ihn auf.
»So ein Scheiß«, sagte Droyd. »Das sind Freunde von mir.«
»Mir egal«, sagte Frank. »Ist trotzdem Abschaum.«
»Ach, Mist!« Droyd war nicht glücklich über das Urteil. »Soll ich mir hier etwa den ganzen Tag den Hintern platt sitzen? Darf ich jetzt nicht mal meine Kumpels mehr treffen?«
»Warum lässt du ihn nicht, Frank?«, mischte ich mich ein. »Ist ja direkt eine Sünde, einen erwachsenen Menschen die ganze Zeit einzusperren.«
»Wenn er Lust drauf hat, dann lässt er sich ganz gern hier einsperren. Und wenn er Lust drauf hat, dann sitzt er hier auch ganz gern auf seinem Hintern und frisst mir den Kühlschrank leer, anstatt sich um einen Job zu kümmern.«
Droyd schaute ihn verletzt und gleichzeitig entrüstet an. »Ich hab versucht, einen Job zu kriegen«, sagte er. Ich habÕs dir doch gesagt, es ist unmöglich, was zu kriegen im Moment, wegen der ganzen Ausländer. Da ist für Iren nichts mehr zu holen. Erst neulich im Bus, da musst ich stehen, weil alle Sitzplätze mit Asylanten voll waren. Jetzt kann sich ein Ire schon in seinem eigenen Bus nicht mehr hinsetzen. Darum sollten wir uns mal kümmern, wenn du mich fragst. Die sollen zurück, wo sie hergekommen sind, wenn du mich fragst. Na ja, die Schlitzis vom Stehchinesen, die können ruhig dableiben, oder die Jungs unten an der Dönerbude, aber alle anderen, die sollen É«
»Willst du etwa den Ausländern die Schuld dafür geben, wenn du hier den ganzen Tag faul rumhängst?«, unterbrach Frank Droyds Tirade.
»Ich häng nicht faul rum!«, protestierte Droyd. »Ich geh jeden Tag raus und lass mir mein Methadon verpassen.«
»Sich Methadon verpassen lassen ist kein richtiger Job«, sagte Frank.
»Ach, Scheiße!«, brüllte Droyd. »Er hat auch keinen Job, warum gehst du nicht zur Abwechslung mal ihm auf die Eier?«
»Die Umstände in meinem Fall sind vollkommen anders gelagert«, sagte ich. »Bei mir ist das eine Frage des Prinzips.«
»Willst du etwa so enden wie Charlie?«, sagte Frank scharf - als ob er meinen Einwand gar nicht gehört hatte. »Willst du das?«
»Lass mich jetzt endlich mit dem Mist in Ruhe.« Droyd umklammerte krampfhaft seinen Kopf. »Du hörst dich an wie mein Alter, der ist mir auch von morgens bis abends mit seiner Stänkerei auf die Eier gegangen, und selbst hat er bloß von eins was gewusst, nämlich wie man sich in der Kneipe die Birne zuschüttet É«
»Ich stänker nicht, ich will bloß nicht, dass du mit diesen Pennern rumhängst É«
»Was ich tue, geht dich Õn Dreck an!«, schnitt ihm Droyd das Wort ab. »Du bist mein Kumpel gewesen. War mal echt lustig mit dir, aber jetzt machst du bloß noch einen auf piekfein, mit dieser Pussy und É und dem da.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Dass der so ist, da kann er nichts für, der ist so geboren. Aber du É Scheiße, Mann É du versuchst genauso zu sein. Du machst dich doch bloß zum Affen. Ich hab die Schnauze voll von dem ganzen Mist. In der Bude hier wird man reif für die Klapse. Im Knast, da war mehr los.«

Er kam nicht nach Hause an jenem Abend. Und am nächsten auch nicht.
»Wenn er Hunger hat, kommt er schon wieder«, sagte ich. »Kein Grund zur Aufregung.«
»Aber vielleicht ist ihm ja was zugestoßen«, sagte Frank gereizt und drückte die Nase gegen die Fensterscheibe, an der das Wasser herunterströmte.
»Was kann ihm schon zustoßen? Er kann selbst auf sich aufpassen. Er ist schließlich kein Kind mehr, er war im Knast.«

F
rank ließ sich nicht überzeugen. Aber um die Wahrheit zu sagen, kümmerte mich Droyds Verschwinden nicht sonderlich. Ich hatte genug mit meinen eigenen Problemen zu schaffen, meinem Ärger, meinen Erinnerungen, meinen undurchführbaren Plänen. Und als ich jetzt aufwachte, blieb mir nur noch ein Tag bis zur Dinnerparty und Bels Abreise.
Es schüttete immer noch wie aus Kübeln. Eigentlich ein perfekter Tag, um im Sessel zu sitzen und Trübsal zu blasen. Ich hatte aber einen Termin im Krankenhaus, weil mein Verband gewechselt werden musste. Also nahm ich den Bus in die Stadt und saß nun niedergeschlagen auf dem Untersuchungstisch, während der Arzt mich auswickelte, mit stumpfen Instrumenten anpiekste und fragte, ob das wehtäte. Tat es nicht, ich war zu sehr in Gedanken versunken. Ich dachte an den grauen russischen Himmel und die wilde endlose Steppe und fragte mich, wie es sich da wohl lebte, verglichen mit meinem trostlosen kleinen Verlies in Bonetown. Ich brauchte also einen Augenblick, bis ich registrierte, dass der Arzt gesagt hatte, die Verletzung sei ausgeheilt.
»Was?«, sagte ich und schreckte auf. »Geheilt?«
»Sie brauchen keinen neuen Verband«, sagte er. »Da muss jetzt frische Luft ran. Sekunde, Sie können es sich gleich selbst mal anschauen.« Er nahm einen Handspiegel aus einer Schublade und hielt ihn mir vors Gesicht. Tatsächlich, der mich da anschaute, war Charles Hythloday. »Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Nein, nein, es ist nur É« Ich räusperte mich. »Kommt mir vor, als würde ich viel älter aussehen als vorher.«

D
er Arzt lachte und sagte, in ein paar Wochen wäre die Haut wieder straff. Dann schrieb er mir ein Rezept für verschiedene Salben und Packungen. »Gutes Wetter für Enten«, sagte er und nickte zum Fenster.

N
ach drei Monaten mit feuchtklebrigen Verbänden hätte es etwas Besonderes sein müssen, wieder Regentropfen auf dem Gesicht zu fühlen; nach so langer Zeit als Nobody hätte es ein Ereignis sein müssen, wieder ich selbst zu sein. Aber ich konnte nur an morgen und an Bel denken. Während ich durch die Thomas Street ging, probte ich im Kopf leidenschaftliche Ansprachen, die ich ihr zu Ehren halten könnte. Manche waren so aufwühlend, dass mir zunächst gar nicht auffiel, dass das, was ich vage als Abkürzung hinter Christchurch Cathedral in Erinnerung hatte, mich tatsächlich ins Labyrinth einer verfallenden Wohngegend führte. Als ich meinen Irrtum erkannte und stehen blieb, um mich zu orientieren, hatte ich mich schon heillos verlaufen.
Ich versuchte, auf gleichem Weg zurückzugehen, gelangte aber immer wieder zur selben Stelle. Im Regen sah alles gleich aus, und ich traf auch niemanden, den ich nach dem Weg hätte fragen können. Als ich mir dann die Gegend genauer anschaute, hoffte ich allerdings, dass ich niemanden treffen würde. Mir fiel die Geschichte von Pongo McGurks ein, der sich mal in dieser Gegend verirrt hatte. Herumstreunende Jugendliche hatten ihm aufgelauert, ein Taschenmesser an die Gurgel gehalten und gedroht, seine inneren Organe nach Dubai zu verkaufen. Einer Eingebung des Augenblicks folgend, hatte er ihnen erzählt, dass ihm als Jünger der Christian Science Organverpflanzungen aus religiösen Gründen untersagt seien. Stattdessen hatte er sie dazu überreden können, sich mit seiner Cartier-Uhr und ein paar Kreditkarten zu bescheiden, die auf den Namen seines Vaters liefen. Weiß Gott, was sonst passiert wäre. Ich geriet langsam in Panik und entschied mich wahllos für eine Straße, weil ich mir so größere Erfolgschancen einräumte, als wenn ich planvoll versuchte, einen Fluchtweg zu finden. Allerdings stellte sich auch das schnell als Irrtum heraus, und ich war gerade wieder stehen geblieben und gestand mir ein, dass die Lage doch ernster war, als ich zunächst angenommen hatte, als eine grobknochige Hand aus der Dunkelheit schoss und mich in eine Seitengasse zerrte. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich zu Boden geschickt und eine hagere Gestalt mit Kapuze über dem Kopf hüpfte mir auf die Brust. »Rück die Kohle raus«, zischte er.

T
u mir nicht weh!«, kreischte ich. »Ich bin gläubiger AmischÉ halt, nein É ich bin, verdammt, wie hießen die noch mal?«
»Die Kohle«, knurrte er.
»Ja, ja, schon gut«, brabbelte ich und kramte nach meiner Brieftasche.
»Los, Tempo!« Er schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Aua!«, jaulte ich, bekam schließlich die verdammte Brieftasche in die Finger, hielt sie ihm hin und zog sie in letzter Sekunde wieder zurück. »Moment mal«, sagte ich.
»Keine Tricks«, sagte er drohend.
Ich schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Droyd?«
Er hielt inne. »Ja?«, sagte die Gestalt argwöhnisch.
»Ich binÕs, du Idiot!«, wies ich ihn zurecht und stieß das Knie von meiner Brust. Droyd war wie vom Donner gerührt. Er setzte sich auf und blinzelte mich stumpfsinnig an. Mir fiel ein, dass er mich noch nie ohne Kopfverband gesehen hatte.
»Ich binÕs, Charles!«, führte ich aus. »Charles!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.06.2006