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Und während es draußen in den Straßen Tag für Tag kälter und dunkler wurde und die schicksalhafte Dinnerparty sich wie ein unerwarteter Abgrund vor mir auftat, verbrachte ich meine Stunden damit, im Morgenmantel im Sessel herumzusitzen. Ich schrieb eine neue Zeile und strich sie wieder aus; ich versank in den unendlichen Fluten meiner Erinnerungen; ich heckte einen fantastischen Plan nach dem anderen aus, wie ich Bel zum Bleiben bewegen könnte - darunter, als wenige Beispiele für zahllose andere, folgende: Ich projiziere direkt vor ihrem Zimmerfenster eine sorgsam formulierte Entschuldigung in den Himmel; ich simuliere eine lebensbedrohende Erkrankung; ich beende mein Stück und schicke es ans Abbey-Theater, wo es - idealerweise bis kommenden Mittwoch - mit Bel Hythloday in der Hauptrolle unter großem Beifall uraufgeführt wird; ich rufe Mutter an, präsentiere eine erschöpfende Analyse von Bels Verhalten in jüngster Zeit und beweise ihr so, dass Bel nicht reisefähig ist; ich ziehe mir tatsächlich eine lebensbedrohende Krankheit zu, nämlich das nach intensiver Zusammenarbeit mit Boyd Snooks zum Ausbruch gekommene Lassafieber. Doch die meiste Zeit machte ich das, was ich am besten konnte, nämlich nichts.
Gelegentlich dachte ich daran, die Arbeit an meiner Monografie wieder aufzunehmen. Ich war inzwischen in den fünfziger Jahren angelangt. Alle Filme waren jetzt in diese gespenstische Hollywoodfarbe getaucht, die alles gleichsam grell und verbraucht aussehen ließ. Gene benutzte schon seit Jahren kein Make-up mehr, doch die überreifen Farbtöne durchtränkten auch sie und betonten das Geistesabwesende, das den Kern ihres Spiels ausmachte. Hatte sie sich schon in ihren früheren Filmen zu verbergen versucht, so war sie in den letzten vier Filmen - Personal Affair, The Egyptian, Black Widow und The Left Hand of God - endgültig verschwunden. Schlafwandlerisch wäre eine freundliche Umschreibung: Alles an ihrem Spiel verwies darauf, dass sie als Mensch eigentlich nicht mehr da war - die Trägheit, die leblosen Bewegungen, die wunderschönen, überschatteten Augen.

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n The Left Hand of God spielte sie ihre letzte Filmrolle. Sofort nach Drehschluss floh sie aus Hollywood und verkroch sich bei ihrer Mutter in New York. Die Studios entließen sie umgehend wegen Vertragsbruchs und warfen ihr öffentlich Primadonnaallüren vor. Die Reporter jagten sie. Tag und Nacht klingelte das Telefon, bis ihre Mutter den Stecker herauszog.
In der New Yorker Wohnung ging es chaotisch zu. Sie schlief tagelang. Sie erkannte ihre Freunde nicht wieder. Sie hatte sich nie für Politik interessiert, war aber nun wie besessen von der Vorstellung kommunistischer Verschwörungen. Sie glaubte, die Kommunisten wollten sie vergiften, sie glaubte, sie würden in den Büchern, die sie las, Wörter austauschen. Sie hörte auf zu essen. Dann wieder ernährte sie sich nur noch von Schokolade, Brot und Butter und nahm binnen weniger Wochen zwanzig Pfund zu, weil sie glaubte, schwanger zu sein, und deshalb für zwei aß. Jede Nacht fantasierte sie die Geburt, jede Nacht entführten die Kommunisten ihr Kind. Dann träumte sie, dass Daria nicht mehr in der Anstalt lebte, sondern bei einem Ehepaar ein paar Häuser weiter. Ihr Bruder griff sie mitten in der Nacht auf, als sie an den Nachbarhäusern gegen die Türen hämmerte und ihre Tochter zurückforderte. Schließlich wurde sie in die New Yorker Irrenanstalt Harkness Pavilion eingewiesen.
Die Elektroschocktherapie wurde damals als Durchbruch bei der Behandlung von Geisteskranken betrachtet. Indem man dem Gehirn einen elektrischen Schock verabreichte, glaubte man den Patienten vorübergehend aus seiner Psychose reißen zu können. Der Schock bewirkte, dass man alles vergaß, und man konnte kaum - so Genes Kommentar - wegen etwas deprimiert sein, an das man sich gar nicht erinnerte. Über ein Jahr verteilt, erhielt sie zweiunddreißig dieser Behandlungen. Jedes Mal wachte sie auf und wusste nicht, wer, wo oder was sie war. Nach und nach kehrte ein Teil ihrer Erinnerungen wieder zurück - meistens erst aus der Kindheit, dann aus der Jugend, dann aus der mittleren Phase ihres Lebens. Die Erinnerungen an die Monate und Jahre vor dem Beginn der Behandlung kamen nicht zurück. Sie waren einfach verschwunden, aus der Persönlichkeit gestrichen, als hätte es sie nie gegeben. Als sie Jahre später ihre Autobiografie schrieb (mit dem selbstironischen Titel Selbstporträt), musste sie sich auf ausgeschnittene Zeitungsartikel, Briefe und das Wort von Freunden verlassen.

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hr Leben in der Anstalt war eine lange, graue Reise, namenlos, nebelhaft, bestimmt vom Rhythmus der Stromstöße. Und auf gewisse Weise funktionierte es: Sie war friedfertig und fügsam; sie strickte, deckte den Tisch, wischte den Boden; sie war froh, von der Last ihrer Identität erlöst zu sein. Doch das Grauen vor den Elektroschockbehandlungen blieb. Einmal, so berichtet sie, sei sie im üblichen Dämmerzustand aufgewacht und plötzlich - natürlich ohne zu wissen, warum - so wütend geworden, dass sie die Schwester, die sich gerade über sie beugte, ins Gesicht geschlagen habe. Aus Rache habe die Schwester sie in die Station für die hoffnungslosen Fälle gesteckt. Gene war jedoch so weggetreten gewesen, dass sie die Patienten dort für Schauspieler der Stanislawskij-Schule gehalten hat. Den ganzen Tag stand sie nur da und applaudierte ihnen.

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ir kam der Gedanke, dass es vielleicht gar keinen so großen Unterschied machte, Schauspieler in Hollywood oder Patient in einem Irrenhaus zu sein. Wie das Studio so kontrollierte auch die Anstalt rigide jeden Aspekt des Lebens: Image, Tagesablauf, wie man dachte, sprach und handelte. Die Patienten waren wie Schauspieler, die sich so tief in das Drehbuch verstrickt hatten, dass sie nicht mehr aus ihm herausfanden. Vielleicht war das der Grund, warum Gene schließlich entlassen wurde. Sie wusste, wie das System funktionierte und was sie von einem wollten. Und sie hatte, was sie ihren Modeltrick nannte: die Fähigkeit, ihr Aussehen an jede geforderte Szene anzupassen. Händler, Outlaw, Dustbowl-Salomé, Frontiergirl, Aristokrat; arabisch, eurasisch, polynesisch, chinesisch - sie wusste sich auf Abruf umzustellen und konnte zu gegebener Zeit den Eindruck erwecken, als sei alles in bester Ordnung. Und niemand bekam etwas mit. Zumindest machte sich niemand die Mühe eines Blicks hinter die liebliche Fassade, auf das, was da immer noch brodelte.
Aber ich bekam es mit. Vielleicht deshalb, weil die grelle Aufdringlichkeit und dürftige Handlung ihrer letzten Filme auf seltsame Weise zu dem verwaschenen Grau und Schwarz meiner vorwinterlichen Welt passten, in der jeder kürzere Tag einer immer enger werdenden Schlinge glich. Ihr schlafwandlerisches Spiel schien eine Saite in mir anzuschlagen, aus der sich eine traurige, uns beiden vertraute Melodie entwickelte.


Am Abend, als Frank und Droyd ihren Krach hatten, fing es an zu regnen, und es hörte nicht mehr auf. Es war, als hätte man den Bauch des Himmels aufgeschlitzt. Das Wasser peitschte mit einer Wucht gegen die Fensterscheiben, dass man von der Außenwelt nichts mehr erkennen konnte. Die Wände der Wohnung zitterten und ächzten unter den Windböen. Einmal schien sich das gesamte Gebäude vornüber zu neigen, sodass die mit Krempel vollgestopften Regale ihren Inhalt auf den Boden kippten.
Ich saß im Morgenmantel vor dem Fernseher. Noch war der Empfang passabel, auch wenn sich alle paar Sekunden wie ein nervöses Zucken rauschender Schnee auf der Mattscheibe zusammenballte. Frank arbeitete mit Laura an den Bücherregalen in seinem Zimmer, womit sie anscheinend - nach den Geräuschen zu urteilen, die sie dabei machten - nur sehr langsam voranzukommen schienen. Da Frank aber ohnehin keine Bücher hatte, gab es wohl auch keinen Grund für besondere Eile. Als es an der Tür klopfte, erschien von irgendwoher Droyd und machte auf. Drei ausgemergelte junge Burschen standen im Flur.
Droyd, darauf sollte ich an dieser Stelle hinweisen, hatte nichts mehr gemein mit dem ungehobelten Rüpel, als der er bei uns eingezogen war. Natürlich klopft man sich nur zögerlich auf die eigene Schulter oder streicht den eigenen zivilisierenden Einfluss heraus, doch schien Droyd aus welchem Grunde auch immer vollkommen geheilt zu sein. Er spielte jetzt kaum noch seine Musik, sondern saß meist lammfromm am Fenster oder vor dem Fernseher. Man konnte sogar sagen, dass er für einen Burschen seines Alters fast zu ruhig war. Mit seiner musikalischen Karriere schien er abgeschlossen zu haben, und er schien auch mehr zu schwitzen als früher. Aber ich will hier keine Haare spalten. Jedenfalls hatte er mich seit Wochen schon nicht mehr Schwuchtel genannt und auch nicht versucht, mir meine Brieftasche zu klauen.

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gal, Droyd rief mir also von der Tür aus zu, dass er noch ein bisschen Fußball spielen wolle, und ob das okay sei, und ich antwortete, dass ich nicht wüsste, warum nicht, wobei ich allerdings nicht so genau hinhörte, weil man sich bei dem Empfang schon voll konzentrieren musste, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Und das wäre es dann gewesen, wenn nicht in diesem Augenblick Frank aus seinem Zimmer gekommen wäre und gefragt hätte, was los sei.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.06.2006