20.06.2006
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Gelegentlich dachte ich daran, die Arbeit an meiner Monografie wieder aufzunehmen. Ich war inzwischen in den fünfziger Jahren angelangt. Alle Filme waren jetzt in diese gespenstische Hollywoodfarbe getaucht, die alles gleichsam grell und verbraucht aussehen ließ. Gene benutzte schon seit Jahren kein Make-up mehr, doch die überreifen Farbtöne durchtränkten auch sie und betonten das Geistesabwesende, das den Kern ihres Spiels ausmachte. Hatte sie sich schon in ihren früheren Filmen zu verbergen versucht, so war sie in den letzten vier Filmen - Personal Affair, The Egyptian, Black Widow und The Left Hand of God - endgültig verschwunden. Schlafwandlerisch wäre eine freundliche Umschreibung: Alles an ihrem Spiel verwies darauf, dass sie als Mensch eigentlich nicht mehr da war - die Trägheit, die leblosen Bewegungen, die wunderschönen, überschatteten Augen.
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In der New Yorker Wohnung ging es chaotisch zu. Sie schlief tagelang. Sie erkannte ihre Freunde nicht wieder. Sie hatte sich nie für Politik interessiert, war aber nun wie besessen von der Vorstellung kommunistischer Verschwörungen. Sie glaubte, die Kommunisten wollten sie vergiften, sie glaubte, sie würden in den Büchern, die sie las, Wörter austauschen. Sie hörte auf zu essen. Dann wieder ernährte sie sich nur noch von Schokolade, Brot und Butter und nahm binnen weniger Wochen zwanzig Pfund zu, weil sie glaubte, schwanger zu sein, und deshalb für zwei aß. Jede Nacht fantasierte sie die Geburt, jede Nacht entführten die Kommunisten ihr Kind. Dann träumte sie, dass Daria nicht mehr in der Anstalt lebte, sondern bei einem Ehepaar ein paar Häuser weiter. Ihr Bruder griff sie mitten in der Nacht auf, als sie an den Nachbarhäusern gegen die Türen hämmerte und ihre Tochter zurückforderte. Schließlich wurde sie in die New Yorker Irrenanstalt Harkness Pavilion eingewiesen.
Die Elektroschocktherapie wurde damals als Durchbruch bei der Behandlung von Geisteskranken betrachtet. Indem man dem Gehirn einen elektrischen Schock verabreichte, glaubte man den Patienten vorübergehend aus seiner Psychose reißen zu können. Der Schock bewirkte, dass man alles vergaß, und man konnte kaum - so Genes Kommentar - wegen etwas deprimiert sein, an das man sich gar nicht erinnerte. Über ein Jahr verteilt, erhielt sie zweiunddreißig dieser Behandlungen. Jedes Mal wachte sie auf und wusste nicht, wer, wo oder was sie war. Nach und nach kehrte ein Teil ihrer Erinnerungen wieder zurück - meistens erst aus der Kindheit, dann aus der Jugend, dann aus der mittleren Phase ihres Lebens. Die Erinnerungen an die Monate und Jahre vor dem Beginn der Behandlung kamen nicht zurück. Sie waren einfach verschwunden, aus der Persönlichkeit gestrichen, als hätte es sie nie gegeben. Als sie Jahre später ihre Autobiografie schrieb (mit dem selbstironischen Titel Selbstporträt), musste sie sich auf ausgeschnittene Zeitungsartikel, Briefe und das Wort von Freunden verlassen.
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Aber ich bekam es mit. Vielleicht deshalb, weil die grelle Aufdringlichkeit und dürftige Handlung ihrer letzten Filme auf seltsame Weise zu dem verwaschenen Grau und Schwarz meiner vorwinterlichen Welt passten, in der jeder kürzere Tag einer immer enger werdenden Schlinge glich. Ihr schlafwandlerisches Spiel schien eine Saite in mir anzuschlagen, aus der sich eine traurige, uns beiden vertraute Melodie entwickelte.
Ich saß im Morgenmantel vor dem Fernseher. Noch war der Empfang passabel, auch wenn sich alle paar Sekunden wie ein nervöses Zucken rauschender Schnee auf der Mattscheibe zusammenballte. Frank arbeitete mit Laura an den Bücherregalen in seinem Zimmer, womit sie anscheinend - nach den Geräuschen zu urteilen, die sie dabei machten - nur sehr langsam voranzukommen schienen. Da Frank aber ohnehin keine Bücher hatte, gab es wohl auch keinen Grund für besondere Eile. Als es an der Tür klopfte, erschien von irgendwoher Droyd und machte auf. Drei ausgemergelte junge Burschen standen im Flur.
Droyd, darauf sollte ich an dieser Stelle hinweisen, hatte nichts mehr gemein mit dem ungehobelten Rüpel, als der er bei uns eingezogen war. Natürlich klopft man sich nur zögerlich auf die eigene Schulter oder streicht den eigenen zivilisierenden Einfluss heraus, doch schien Droyd aus welchem Grunde auch immer vollkommen geheilt zu sein. Er spielte jetzt kaum noch seine Musik, sondern saß meist lammfromm am Fenster oder vor dem Fernseher. Man konnte sogar sagen, dass er für einen Burschen seines Alters fast zu ruhig war. Mit seiner musikalischen Karriere schien er abgeschlossen zu haben, und er schien auch mehr zu schwitzen als früher. Aber ich will hier keine Haare spalten. Jedenfalls hatte er mich seit Wochen schon nicht mehr Schwuchtel genannt und auch nicht versucht, mir meine Brieftasche zu klauen.
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Artikel vom 20.06.2006