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Vielmehr stopften sie sich die Taschen voll mit Marzipanbrot, Blätterteiggebäck und allem, was ihnen auf dem Weg zu ihren Spinden sonst noch unter die Finger kam. Plötzlich wimmelte es in der Fabrik von blau uniformierten Männern, die wir vorher noch nie gesehen hatten. Sobald die Herde einen Bereich geräumt hatte, rückten sie ein und sperrten ihn mit Plastikgittern ab. Wir waren jetzt stumm; jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Am Tor hatte sich eine lange, nur langsam vorrückende Schlange gebildet. Einer der Uniformierten händigte Schecks aus. Nur wenige der ausbezahlten Männer standen noch kurz zusammen. Kopfschüttelnd wechselten sie ein paar Worte und trotteten dann in Zweier- oder Dreiergrüppchen davon. Aus einem Sattelschlepper, der vor der Laderampe an der Rückseite des Fabrikgebäudes stand, rollten andere Uniformierte Kisten, die etwa die Größe der neuen Roboter hatten.
Bobo, Arvids und der Rest der Christstollenabteilung gehörten zu den Letzten, die das Gelände verließen.
»Name?« Der Uniformierte hatte einen dichten Stoppelbart, an seinem Gürtel hing ein Schlagstock. Ich fragte mich, ob auch er und seine Kollegen speziell für diese Aufgabe von der Agentur angemietet worden waren.

I
ch nannte meinen Namen. Er ging die Liste auf seinem Klemmbrett durch, fand den Namen, strich ihn durch und gab mir einen Umschlag. Als ich durch das Tor trat, kam mir der Gedanke, dass Sirius Recruitment, um die Gehaltsschecks ausstellen zu können, schon seit einigen Tagen von den Entlassungen gewusst haben musste. Ich schaute auf die Zahl unten auf dem Scheck und rechnete im Kopf kurz nach. Wenn ich richtig lag, dann hatten sie uns bis um halb zwölf heute Morgen bezahlt, keine Minute länger.
»Ich kannÕs nicht glauben«, sagte Bobo und starrte mit leerem Blick auf das Stück Papier in seiner Hand.
»Ich weiß«, sagte ich. »Elende Pfennigfuchser É Ich wette, diese Typen würden zu einer Essenseinladung nicht nur keinen Wein mitbringen, die würden auch noch drei Tage vorher hungern. Verdammte É« Dann flatterte Bobos Blatt Papier auf den Boden. »Was ist los?«
Bobo fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Ich jagte dem fröhlich durch den Rinnstein segelnden Scheck hinterher und bekam ihn zu fassen. Ich wischte den Dreck ab. In der obersten Zeile stand BOBODAN ÝboboÜ bobeyovich und daneben die gleiche Ziffer wie bei mir, die sich aus Arbeitslohn, Nachzahlung und der Summe für nicht genommene Urlaubstage zusammensetzte. Doch darunter stand: abzüglich Agenturgebühr 1500.00, darunter abzüglich Unterkunft 108 Tge. à 8.58/Tg., dann abzüglich Abwicklung Visumsformalitäten, abzüglich Zustellungskosten Visum, abzüglich Flug und Versicherungen und so weiter und so weiter, abzüglich, abzüglich, abzüglich, bis man ganz unten bei einem kleinen blauen Kästchen anlangte, in dem man die übersichtliche Endsumme erfuhr: netto 000.00.
Ich pfiff leise. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch, drehte mich um und sah, wie das Tor geschlossen und ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde. Auf der anderen Seite standen zwei Uniformierte mit verschränkten Armen und schauten mich an.

Arvids, Edvin und Dzintars, an deren nahezu identischer Körperhaltung ihre Hoffnungslosigkeit abzulesen war, setzten sich nun in Bewegung. Pavel half Bobo wieder auf die Beine, und alle zusammen trotteten sie die Straße hinunter - und ich mit dem wertlosen, zerknüllten Scheck in der Faust hinterher. Der Himmel hing schwer, stumpf und kalt über uns. Was passierte mit meinem Leben? Funktionierte so die reale Welt? Stolperten wir denn alle nur mit geschlossenen Augen herum, wie in einem Sandsturm, der jeden Schritt im nächsten Augenblick wieder verwischt? Wir kamen zu der Kreuzung, wo es links zu den Baracken der Letten ging und ich weiter geradeaus musste zur Bushaltestelle.
»Wo wollt ihr jetzt hin?«, fragte ich. »Was wollt ihr machen?«
»Die Agentur anrufen«, sagte Dzintars.
»Die Agentur anrufen? Nach dieser Geschichte?«
Dzintars zuckte mit den Achseln.
»Keine Agentur, kein Visum«, sagte Edvin.
»Aber É« Ich stand da und kaute auf meinen Wangen. Ich konnte sie doch nicht einfach so gehen lassen. Man konnte doch nicht zulassen, dass sich die B-Schicht einfach so auflöste, wie Gespenster am Nachmittag, als ob es die letzten paar Wochen nie gegeben hätte. Und doch schien es so, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Bis auf É
»Chin-chin«, sagte Bobo und klopfte mir auf die Schulter. »Bis dann mal, alter Junge.«
»Chin-chin, Arschgesicht«, sagten die anderen und nickten mir zu. Dann zogen sie die Christstollen aus ihren Taschen und gingen den Hügel hinauf.


(Szene. Baufälliges Chateau an der Marne. Auftritt frederick, ein Graf, und babs, seine tragische Schwester.)
frederick: Es ist mir egal, was der Bankdirektor gesagt hat! Ich habe vielleicht kein Geld mehr, aber ich bin immer noch der Graf, und ich werde mich dem Haifischbecken der französischen Weinindustrie stellen und einen halbwegs anständigen Burgunder produzieren - und wenn ich jede einzelne Traube einzeln pflücken muss!

(Babs weint ohne Unterbrechung.)

frederick (ergreift ihren Arm): Verdammt noch mal, Babs, verstehst du denn nicht? Wir leben hier einen Traum, und solange wir zusammen sind, kann kein Bankdirektor daran rühren. Weil es ein Traum ist, ich meine, ich will sagen É
frederick: Verdammt, Babs, jetzt hör endlich auf zu heulen.
frederick: Du fragst dich wahrscheinlich, Babs, was gestern Abend hier vorgefallen ist. Nun, Tatsache ist, dass all das eine Verschwörung Lopachins É
frederick: Verdammt, Babs É
frederick: Verdammt É


Und, Charlie, kommst du mit dem Stück so langsam in die Gänge?«
»Hmm? Ja, ja, so einigermaßen, geht so É Mach gerade ein kleines Päuschen, siehst du ja É«
»Ja, ja, seh ich.« Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Tja, ich hab bloß grad gedacht wegen der Miete und É«
»Miete?«
»Na ja, er war gerade wieder am Telefon und hat nach deinem Anteil gefragt, war Õn bisschen angefressen É«
»Oh«, sagte ich lustlos und spielte mit einer Quaste herum. »Ich schreib dir später einen Scheck aus, ist das okay?«
»Ein Scheck, ja, klasse.« Er räusperte sich. »Ach ja, und ich hab neulich mit meinem Kumpel gesprochen, der mit der Lagerhalle, weißt schon, da wär gerade ein Job frei É«
»Ach was, mach dir keinen Sorgen!« Ich wandte mich wieder dem Fernseher zu.
»Tja, also gut.« Er rührte sich nicht vom Fleck. »Äh É ist das nicht Bels Lippenstift?«
»Ja, stimmt, der gehört ihr.«
»Was machst du damit?«
»Spiel nur so damit rum. Hilft mir beim Denken.«
»Charlie? Alles in Ordnung?«
»Klar, ich bin topfit. Könnte nicht besser sein. Tja, dann mach ich mich mal wieder an mein Stück. Der Ruchlose kennt keine Ruhe, ha, ha É«
»Ha, ha.«

M
it dem Stück lief es eindeutig nicht gut; es lief sogar furchtbar. Ich wusste nicht, warum, aber Lopachin bestimmte jetzt das Tempo, und jedes Mal, wenn ich versuchte, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, wurde es nur noch schlimmer. Zum Beispiel war Frederick für zwei Tage zu einer Konferenz von Korkenproduzenten nach Monte Carlo gefahren. Lopachin jedoch erzählte Babs, dass Frederick die Hälfte des Anwesens verkauft habe und den Erlös am Spieltisch durchbringe. Und Babs glaubte ihm - warum nur? Während also Frederick seine Zeit mit Debatten über Steuerprivilegien für eine Bande habgieriger portugiesischer Bauern verplemperte, war seine Schwester Lopachin ausgeliefert, der ihr die schrecklichsten Lügengeschichten erzählte. Aus Schwarz wurde Weiß, aus Oben Unten und aus Frederick ein zwielichtiger Besessener, der BabsÕ Bühnenkarriere und Herzensangelegenheiten hintertrieb. Von alldem wurde mir manchmal so unwohl, dass ich aufstehen und mich ein Weilchen ins Dunkle setzen musste.

N
ichtsdestotrotz war das alles, was mir geblieben war. Bei Gemma und Sirius Recruitment hatte ich mich nicht mehr gemeldet. Die Erfahrung bei Fresh & Crispy hatte mir die Idee von Arbeit als solcher verleidet. Oder besser, sie hatte mir nur bestätigt, was ich ohnehin schon vermutet hatte, dass nämlich Arbeit zum Lebensunterhalt ein törichtes Konzept war.
»Ich sehe das so«, sagte ich zu Frank und Droyd. »Wenn du nicht reich bist, bist du arm. Und reich wird man nur, wenn man schon reich ist, oder wenn man sich auf irgendein Verbrechen spezialisiert, Entrümpelungsgewerbe oder Handtaschenraub, nichts gegen dich, Frank, schon klar.«
»Schon klar«, sagte Frank.
»Chchchrrrrgrrr«, schnarchte Droyd auf dem Sofa.
»Oder man gründet eine Agentur für Arbeitsvermittlung«, sagte ich bitter.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.06.2006