19.06.2006
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Am Tor hatte sich eine lange, nur langsam vorrückende Schlange gebildet. Einer der Uniformierten händigte Schecks aus. Nur wenige der ausbezahlten Männer standen noch kurz zusammen. Kopfschüttelnd wechselten sie ein paar Worte und trotteten dann in Zweier- oder Dreiergrüppchen davon. Aus einem Sattelschlepper, der vor der Laderampe an der Rückseite des Fabrikgebäudes stand, rollten andere Uniformierte Kisten, die etwa die Größe der neuen Roboter hatten.
Bobo, Arvids und der Rest der Christstollenabteilung gehörten zu den Letzten, die das Gelände verließen.
»Name?« Der Uniformierte hatte einen dichten Stoppelbart, an seinem Gürtel hing ein Schlagstock. Ich fragte mich, ob auch er und seine Kollegen speziell für diese Aufgabe von der Agentur angemietet worden waren.
I
»Ich kannÕs nicht glauben«, sagte Bobo und starrte mit leerem Blick auf das Stück Papier in seiner Hand.
»Ich weiß«, sagte ich. »Elende Pfennigfuchser É Ich wette, diese Typen würden zu einer Essenseinladung nicht nur keinen Wein mitbringen, die würden auch noch drei Tage vorher hungern. Verdammte É« Dann flatterte Bobos Blatt Papier auf den Boden. »Was ist los?«
Bobo fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Ich jagte dem fröhlich durch den Rinnstein segelnden Scheck hinterher und bekam ihn zu fassen. Ich wischte den Dreck ab. In der obersten Zeile stand BOBODAN ÝboboÜ bobeyovich und daneben die gleiche Ziffer wie bei mir, die sich aus Arbeitslohn, Nachzahlung und der Summe für nicht genommene Urlaubstage zusammensetzte. Doch darunter stand: abzüglich Agenturgebühr 1500.00, darunter abzüglich Unterkunft 108 Tge. à 8.58/Tg., dann abzüglich Abwicklung Visumsformalitäten, abzüglich Zustellungskosten Visum, abzüglich Flug und Versicherungen und so weiter und so weiter, abzüglich, abzüglich, abzüglich, bis man ganz unten bei einem kleinen blauen Kästchen anlangte, in dem man die übersichtliche Endsumme erfuhr: netto 000.00.
Ich pfiff leise. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch, drehte mich um und sah, wie das Tor geschlossen und ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde. Auf der anderen Seite standen zwei Uniformierte mit verschränkten Armen und schauten mich an.
»Wo wollt ihr jetzt hin?«, fragte ich. »Was wollt ihr machen?«
»Die Agentur anrufen«, sagte Dzintars.
»Die Agentur anrufen? Nach dieser Geschichte?«
Dzintars zuckte mit den Achseln.
»Keine Agentur, kein Visum«, sagte Edvin.
»Aber É« Ich stand da und kaute auf meinen Wangen. Ich konnte sie doch nicht einfach so gehen lassen. Man konnte doch nicht zulassen, dass sich die B-Schicht einfach so auflöste, wie Gespenster am Nachmittag, als ob es die letzten paar Wochen nie gegeben hätte. Und doch schien es so, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Bis auf É
»Chin-chin«, sagte Bobo und klopfte mir auf die Schulter. »Bis dann mal, alter Junge.«
»Chin-chin, Arschgesicht«, sagten die anderen und nickten mir zu. Dann zogen sie die Christstollen aus ihren Taschen und gingen den Hügel hinauf.
(Szene. Baufälliges Chateau an der Marne. Auftritt frederick, ein Graf, und babs, seine tragische Schwester.)
frederick: Es ist mir egal, was der Bankdirektor gesagt hat! Ich habe vielleicht kein Geld mehr, aber ich bin immer noch der Graf, und ich werde mich dem Haifischbecken der französischen Weinindustrie stellen und einen halbwegs anständigen Burgunder produzieren - und wenn ich jede einzelne Traube einzeln pflücken muss!
(Babs weint ohne Unterbrechung.)
frederick (ergreift ihren Arm): Verdammt noch mal, Babs, verstehst du denn nicht? Wir leben hier einen Traum, und solange wir zusammen sind, kann kein Bankdirektor daran rühren. Weil es ein Traum ist, ich meine, ich will sagen É
frederick: Verdammt, Babs, jetzt hör endlich auf zu heulen.
frederick: Du fragst dich wahrscheinlich, Babs, was gestern Abend hier vorgefallen ist. Nun, Tatsache ist, dass all das eine Verschwörung Lopachins É
frederick: Verdammt, Babs É
frederick: Verdammt É
»Hmm? Ja, ja, so einigermaßen, geht so É Mach gerade ein kleines Päuschen, siehst du ja É«
»Ja, ja, seh ich.« Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Tja, ich hab bloß grad gedacht wegen der Miete und É«
»Miete?«
»Na ja, er war gerade wieder am Telefon und hat nach deinem Anteil gefragt, war Õn bisschen angefressen É«
»Oh«, sagte ich lustlos und spielte mit einer Quaste herum. »Ich schreib dir später einen Scheck aus, ist das okay?«
»Ein Scheck, ja, klasse.« Er räusperte sich. »Ach ja, und ich hab neulich mit meinem Kumpel gesprochen, der mit der Lagerhalle, weißt schon, da wär gerade ein Job frei É«
»Ach was, mach dir keinen Sorgen!« Ich wandte mich wieder dem Fernseher zu.
»Tja, also gut.« Er rührte sich nicht vom Fleck. »Äh É ist das nicht Bels Lippenstift?«
»Ja, stimmt, der gehört ihr.«
»Was machst du damit?«
»Spiel nur so damit rum. Hilft mir beim Denken.«
»Charlie? Alles in Ordnung?«
»Klar, ich bin topfit. Könnte nicht besser sein. Tja, dann mach ich mich mal wieder an mein Stück. Der Ruchlose kennt keine Ruhe, ha, ha É«
»Ha, ha.«
M
N
»Ich sehe das so«, sagte ich zu Frank und Droyd. »Wenn du nicht reich bist, bist du arm. Und reich wird man nur, wenn man schon reich ist, oder wenn man sich auf irgendein Verbrechen spezialisiert, Entrümpelungsgewerbe oder Handtaschenraub, nichts gegen dich, Frank, schon klar.«
»Schon klar«, sagte Frank.
»Chchchrrrrgrrr«, schnarchte Droyd auf dem Sofa.
»Oder man gründet eine Agentur für Arbeitsvermittlung«, sagte ich bitter.
Artikel vom 19.06.2006