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Science-fiction hinter der
wuchernden Blumenranke

Höchst anregende Jugendstil-Schau in der Weißen Villa


Bielefeld (WB/mzh). Das nackte Mädel schießt dem bärtigen Herrn Professor in den Hintern. Ein Schrei, und die Säge entgleitet der akademisch knöchernen Hand - der junge Baum wird nicht gefällt. Das zarte Pflänzlein namens »Jugendstil«, das den Keim so vieler späterer Kunstrichtungen in sich trug, wird seit gestern im Museum Huelsmann gehegt.
»Neuentdecktes und Bekanntes« verspricht die Ausstellung in der Weißen Villa, und so hat Museumsleiterin Dr. Hildegard Wiewelhove aus Eigenbeständen und aus vier exklusiven Bielefelder Privatsammlungen Stücke gewählt, die geeignet sind, alle gängigen Klischees über diese verspielte Kunst der Jahrhundertwende Lügen zu strafen. Jugendstil = Science-fiction: Wer die - expressive? symbolistische? abstrakte? - Kohlezeichnung der vergessenen Katharina Schäffner aus Prag gesehen hat, wird zugeben müssen, dass diese Gleichung aufgeht.
Und weil jedes Jugendstilobjekt eine Diva ist, die einzeln im Scheinwerferlicht schillern möchte, hat Hildegard Wiewelhove der Versuchung widerstanden, die Schauräume zu überfrachten, auf dass der Besucher nicht von mäandernden blumigen Ranken erwürgt werde. Der Humor kommt nicht zu kurz, wie sechs Ausgaben der satirischen »Münchner Illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben« (ab 1896) beweisen, denen das eingangs erwähnte Motiv der wehrhaften Art-Nouveau-Diana entnommen ist.
Zwar darf das Porzellanservice mit dem knalligen Klatschmohn-Dekor nicht fehlen, auch nicht das ätherisch-transparente Ensemble geschwungener Weingläser, doch die kluge Präsentation sorgt für so manchen Aha-Effekt. Braun-goldene Kannen - so dunkel begann der Jugendstil? Grasgrüne Vase im dunklen Fadennetz - malten so nicht später Kandinsky und Klee? Verbeulter Zinn ums schlanke Teeglas - welcher Grobian träumte um 1900 von der Art Brut?
Hier liegt ein Porzellan-Elch (diesmal kein Ostpreuße . . .), über den Teller zieht das »Wandervogel«-Quartett mit Klampfe, vom Briefbeschwerer züngelt eine Kobra und matt schimmert ein Kandelaber, der dem Navigator des Raumschiffs »Orion« durchs dunkle All hätte leuchten können. Sagen Sie nicht, Sie kennten den Jugendstill, bevor Sie diese Ausstellung (bis zum 20. August) besucht haben.
Das Museum ist dienstags bis samstags von 14 bis 18 Uhr geöffnet, sonntags und feiertags von 11 bis 18 Uhr.

Artikel vom 24.05.2006