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Israel igelt sich ein - Ruhe hinterm Zaun

Der Judenstaat denkt über eine Räumung der Westbank nach, will aber nicht länger verhandeln

Von Reinhard Brockmann
Tel Aviv (WB). Israel igelt sich ein. Die zum Frieden gereichte Hand ist ebenso gescheitert wie die eiserne Faust. Die Masse im boomenden Judenstadt (Wirtschaftswachstum 6,5 Prozent) will den Rückzug vom Westjordan. 600 Kilometer Zaun und Mauern sollen noch dieses Jahr vollendet werden.

Yossi Alpher steht an Israels schwächster Stelle. Handtuchschmal ist hier das Kernland in den Grenzen von 1967. Grimmig entschlossen schaut der 62-Jährige, den Kopf leicht zurück gelegt, auf den Ausläufern des Berglandes von Samaria zur Küste - gerade 20 Kilometer entfernt. Nirgends wird die arabische Drohung spürbarer, alle Juden eines Tages ins Meer zu treiben.
Yossi war Mossad-Agent, dann Sicherheitsberater. Er hat ein klares Weltbild. Seine Lebenserfahrung ist die Erfahrung eines Überlebens. Seit der Gründung des Staates existiert dieses Land mit der Gefahr totaler Vernichtung. Gerade wieder spielt Irans Staatspräsident mit dem atomaren Feuer.
Wie viele pensionierte Offiziere hier oben im malerischen Alfei Menashe mit seinen roten Dächern, blauen Pools und blitzblanken Straßen war Yossi einer der ersten, die einen Sicherheitszaun verlangten. Das war 2001, lange bevor Ariel Scharon und die politische Rechte bereit waren, engere Grenzen zu ziehen.
Genau genommen steht Yossi nicht auf der grünen Linie, sondern drei Kilometer weiter in das von den Palästinensern beanspruchte Westjordanland hinein. Deshalb zeigt die Karte in Yossis Hand eine Art Ausstülpung des Grenzverlaufs nach Osten. Die Grenzanlage, hier nicht als Acht-Meter-Mauer, sondern wie fast überall ein Zaun, wurde kurzerhand im großen Bogen um den Siedlungshügel von Alfei Menashe herumgeführt. Der helle Streifen mit penibel geharkten Sandfeldern, Alarmdrähten und Kontrollwegen kommt deutschen Betrachtern unangenehm bekannt vor.
Was der Fremde nicht sofort erkennt, erklärt der Einheimische. Dort unten zwischen der israelischen Siedlung und dem Großraum Tel Aviv mit zwei Millionen Einwohnern liegt eine arabische Kleinstadt. Ihr Name: Kalkila, jenes Kalkila, wo mehrfach Selbstmordattentäter ein Taxi in die Metropole nahmen. Kalkila, das ist auch jene Stadt, in der die radikale Hamas die absolute Mehrheit hat.
2001, das Jahr in dem Yossi seine »Graswurzelbewegung für einen Zaun« startete, war auch das Jahr, in dem die Leute aus Kalkila einen Tanklastzug stahlen, vor einem Hochhaus abstellten und - »Schalom«/ der Friede sei mit Dir - an der Zündung scheiterten.
Szenenwechsel: Hinter grünem Milchglas kreiert »Messa«, Tel Avivs angesagtes Szene-Restaurant radikalen Minimalismus: weiß und eckig vom Teller-Ikebana bis zum Hochsitzsessel. Edle Gastronomie überrascht in einem langen Raum, baulich Berlins »Lützowbar« nicht unähnlich.
Mazal Mualem (35), die attraktive politische Korrespondentin von »Haaretz«, schaut gern vorbei - zwar als letzte, aber ein Gespräch mit dem neuen deutschen Botschafter, Harald Kindermann, will sie sich nicht entgehen lassen. Der lange Jahre enge Mitarbeiter von Klaus Kinkel aus Bielefeld kennt den arabischen Raum nur zu gut. Jerusalem, die fromme, und Tel Aviv, die lebensfrohe Stadt, sind für den Diplomaten wie für die Journalistin absolute Hotspots des Nahen Ostens.
Und darüber hinaus?
Hier Israel, da Amerika: Mazal umreißt das Weltbild der jungen Leute, die nächtens zu Zehntausenden zwischen Sheinkin, dem Greenwich Village der Stadt, und Sderot Dizengoff Clubstimmung suchen. Hierher, gleich hinter den schicksten Strand des Nahen Ostens, verirren sich kaum Orthodoxe, hier pulsiert das Leben, vielleicht gerade weil Hamas und Terror nicht weit sind.
Die Szene hat schon die fürchterlichsten Attentate überlebt. Joschka Fischer wurde auf einer seiner 14 Israelreisen selbst zum Ohrenzeugen. Und längst wird auf dem Vulkan wieder getanzt.
Hamas schickt seit 15 Monaten kaum noch Selbstmordattentäter etwa zur Busstation nebenan. Ist der Terror weniger geworden?
»Hoffentlich«, sagt Merav Michaeli ansteckend fröhlich. Sie gibt in ihrer zweimal wöchentlich ausgestrahlten Radio-Show dem neuen, dem jungen Israel eine Stimme. Sie will Fortschritte, sie will Leben. Wie 170 andere und Mazal Mualem, die Jüdin mit dem arabischem Hausnamen, ist auch Merav »Fellow«, sprich: Teilnehmerin, eines Young Leaders-Austausches. Die Gütersloher Bertelsmann-Stiftung knüpft Netzwerke. Schnell wurde bei Begegnungen in Berlin und Jerusalem klar, erinnert sich Merav, dass es ans Eingemachte geht, wenn man sich wirklich verstehen lernen will. Die Frau, deren ungarische Vorfahren im Holocaust umkamen, reibt sich am neuen Israel. Leidenschaftlich kämpft sie dafür, dass künftig mehr als 15 Prozent Frauen in der Knesset sitzen. Ob deutsche Politiker mit der chaotisch regierenden Hamas drüben in Gaza flirten oder nicht, das regt Merav nicht weiter auf.
Auch Shlomo Avinieri, der weise alte Mann der politischen Linken, sieht Hamas seit der Wahl pragmatisch: »Macht macht verantwortlich«. Kein Wort zum Zaun, aber glasklare Schlüsse aus der Trennung: Niemals werde es eine Verständigung geben mit »Klausewitz' besten Schülern, die Terror als Verlängerung der Politik verstehen«. Aber die »Dualität« erlaube den von fast allen Israelis inzwischen gewollten Rückzug aus dem Westjordanland.
Nicht die Räumung der militärischen Stellungen, wohl aber die Aufgabe der meisten kleinen Siedlungen sei vorstellbar - in aller Ruhe, weil Hamas keine israelischen Panzer mehr in Gaza sehen wolle.
Auch Yossi Alpher und den vielen anderen Offizieren im Ruhestand, die in Alfei Menashe kostenlosen Baugrund fanden und in Frieden sterben möchten, wäre gedient. Im Schatten des Zaunes fühlen sie sich sicherer.
Ja, sagt Yossi, in besseren Zeiten habe es Kontakte zu den Arabern gegeben. Man sei in die Dörfer gefahren, um billig einzukaufen oder Geld beim Zahnarzt zu sparen. Aber mit der Intifada begann die getrennte Entwicklung.
Wer heute die naive Frage stellt, ob es die scharfbewachte Grenze vielleicht weniger lang geben werde als jene 28 Jahre bei uns in Deutschland, stößt stets auf eine Gegenfrage: »Wiedervereinigung, was ist das?«

Artikel vom 24.05.2006