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Zwölf Stunden
angestanden

Wilfried Hortmanns Karten-Kampf

Von Matthias Reichstein
Paderborn (WV). An die lange Fahrt nach München kann sich Wilfried Hortmann gut erinnern. Noch am Vormittag des 7. Juli 1974 stellte ein Tankwart trocken fest: »Wenn die Käseköppe heute gewinnen, bekommt morgen kein Holländer von mir Benzin.«

Das Ende ist bekannt. Deutschland gewann 2:1 und holte den Titel, ob es die Tankstelle heute noch gibt, weiß der Fahrlehrer aus Wewer allerdings nicht. Ganz genau erinnert sich der treue Fan des Zweitligisten SC Paderborn 07 aber an den Start der ersten Weltmeisterschaft in diesem Land. Die begann offiziell am 13. Juni mit der enttäuschenden Nullnummer des Weltmeisters Brasilien gegen Polen. Im Frankfurter Waldstadion saß auch Wilfried Hortmann, den eigentlichen Beginn der Weltmeisterschaft datiert der heute 62-Jährige aber auf den 2. April 1973. Bei Dauerregen und kaltem Wind hatten Hortmann und sein Fußball-Freund Theo Lottritz mehr als zwölf Stunden im Schildern ausgehalten, um beim damaligen Paderborner Reisebüro Kahn WM-Tickets zu ergattern. Sitzplatzkarten für das Endspiel für 88 Mark und eine ganze Reihe von Billetts für die Vor- und Zwischenrundenspiele der deutschen Mannschaft sollte es geben, doch bis die beiden an der Reihe war, hing das Schild »Ausverkauft« im Schaufenster. »Da wollte man uns ganz schön verschaukeln«, erinnert sich der Weweraner, der so lange für seine Tickets angestanden hatte.
Doch das Duo ließ sich von Kahn nicht ausbooten, machte über das Boulevard-Blatt mit den vier Buchstaben den missglückten Karten-Kauf bundesweit öffentlich und bekam am Ende doch noch die Tickets: »Da sollen sich damals einige Angestellte des Reisebüros vor dem offiziellen Vorverkaufsstart selbst mit den Karten gesegnet haben. Die mussten dann alle zurückgeben.«
Hortmanns holprigen WM-Beginn setzte die deutsche Elf ein Jahr später fort, hatte am Ende aber, wie der Weweraner auch, Erfolg. Drei Wochen hatte sich der Familienvater Urlaub genommen, um den damals amtierenden Europameister von Spiel zu Spiel zu begleiten. »Eine richtige Euphorie gab's aber nicht im Land«, blickt Hortmann zurück. Das lag zum einen daran, dass die Sicherheitsvorkehrungen - zwei Jahre nach dem der Terror der Spiele von München '72 die ganze Welt geschockt hatte - beklemmende Dimensionen erreicht hatte. »Schon ausgebeulte Hosentaschen erweckten Misstrauen«, denkt Hortmann mit Unbehagen an die unzähligen Kontrollen. Zum anderen lag's auch daran, dass die Vorfreude der Menschen schon überreizt war. Hortmann drückt das so aus: »Zu oft und zu lange ist uns damals eingeredet worden, dass nur die deutsche Elf den Titel gewinnen kann und wird.«
Entsprechend verhalten fiel auch der Jubel am Münchner Marienplatz aus. Die Menschen tanzten zwar auf der Leopoldstraße, doch der zweite Triumph nach 1954 war weder ein »Wunder«, noch mit dem Triumph von Bern zu vergleichen.

Artikel vom 19.06.2006