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»Es war ein weiter Weg, den Rumänien und Bulgarien in kürzester Zeit zurückgelegt haben.«

Leitartikel
Europaverdrossenheit

Nicht gern in
den Spiegel
schauen


Von Dirk Schröder
Es gibt wenige Europäer, die den Karlspreis, der am Donnerstag in Aachen verliehen wird, so verdient haben wie der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker. Juncker wäre aber nicht Juncker, wenn er nicht vorher den Europäern noch einmal kräftig den Kopf gewaschenhätte. Kein Verständnis hat der überzeugte Europäer für die um sich greifende Europaverdrossenheit. Es ist ja auch nicht zu verstehen, dass der Stolz auf die europäischen Leistungen verdrängt und wird die Euphorie über die Wiedervereinigung des europäischen Kontinents nach nicht einmal zwei Jahrzehnten längst schon wieder verflogen ist.
Natürlich nimmt auch Juncker die Sorgen und Ängste der Bürger ernst, doch sind diese häufig übertrieben. Die Politik hat Fehler gemacht bei der Erweiterung der Europäischen Union, das ist unbestritten. Noch bis in die 80er Jahre hinein hat in Europa immer wieder die Gefahr gedroht, dass aus dem »kalten Krieg« schnell wieder ein »heißer Krieg« werden könnte. Wir sollten nicht vergessen, dass die Überwindung der europäischen Teilung eine historische Großtat war.
Der luxemburgische Ministerpräsident hat doch Recht, wenn er den Bürgern jetzt ein Spiegel vorhält, in den sie nicht allzu gern schauen. Egoismus und die Unfähigkeit zu teilen seien die Gründe dafür, dass die Erweiterung nach Osteuropa in Westeuropa so unpopulär geworden ist.
Klare Worte, in denen aber mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit liegt. Tatsache ist doch, dass sich die Bürger noch immer nicht an die Erweiterung der Gemeinschaft auf 25 Mitglieder gewöhnt haben, da steht 2007 schon die nächste Beitrittsrunde ins Haus - Kandidaten sind Rumänien und Bulgarien. Den Kritiker ist zuzustimmen, beiden Ländern dürfe kein Blankoschecke ausgestellt werden, die Beitrittskriterien müüüssen erfüllt sein. Da ist richtig, aber man sollte jetzt nicht strengere Maßstäbe anlegen als bei den anderen Beitritten.
Gemeint ist nicht, die Augen zuzudrücken. Gemeint ist aber wohl, die bisherigen Leistungen anzuerkennen. So war es eine weise Entscheidung der EU-Kommission, den Druck auf die beiden Länder noch einmal zu verstärken, dass diese ihre Anstrengungen noch einmal erhöhen.
Um es deutlich zu machen, 45 Jahre kommunistische Misswirtschaft haben in den Ländern tiefe Wunden gerissen. Und es war ein weiter Weg, den beide in kürzester Zeit zurückgelegt haben. Noch im Oktober registrierte die EU-Kommission bei Rumänien 14 Bereiche, die zu ernsthafter Sorge anlassen gaben, vergangene Woche waren es nur noch vier.
Dies sollten die Kritiker bedenken, der für 2007 versprochene Beitritt käme zu früh und sei nicht verantwortungsvoll. Es wäre ein Fehler, den Reformpolitikern in den Ländern den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Sie müssen ermutigt werden, die Defizite weiter abzubauen. Ein Beitritt würde auch den Balkan insgesamt weiter stabilisieren.

Artikel vom 22.05.2006