17.06.2006
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»Kollegen und Kolleginnen«, krächzte Mr Appleseed. »Ich danke euch, dass ihr gekommen seid. Heute ist ein verheißungsvoller Tag in der Geschichte von Fresh & Crispy. Das Unternehmen ist im Begriff, einen großen Sprung in die Zukunft zu tun, und wir alle genießen das Privileg, Zeuge dieses Aufbruchs sein zu dürfen.« Da und dort waren die gedämpften Stimmen derer zu hören, die für die übersetzten, deren Englisch nicht ganz auf der Höhe war.
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»Das ist keine Arbeit für die Willensschwachen und Zartbesaiteten. Man könnte sogar sagen, dass es in einer perfekten Welt einen so harten Job wie den euren gar nicht mehr geben würde. Es ist ohne Zweifel ein Job für Männer, in manchen Fällen auch für Frauen.« Den aufbrandenden Applaus brachte er mit einer Handbewegung zum Verstummen. »Doch heute kann ich euch stolz mitteilen, dass wir dank der Hilfe durch die Wissenschaft der perfekten Welt ein Stückchen näher gekommen sind.« Begleitet von diesmal nur vereinzeltem und ziemlich gedämpftem Applaus, trat er hinter den Metallapparat und drückte auf einen Knopf. Lämpchen blinkten, und der Metallarm begann durch die Luft zu surren. »Darf ich vorstellen, BZD 2348«, sagte Mr Appleseed. »Dieses spezielle Modell ist so programmiert, dass es alle Arbeiten ausführt, die derzeit von der Christstollenabteilung erledigt werden. Passt auf!« Er legte einen Stollen ohne Zuckerguss auf eine Platte, die an einer Seite aus der Maschine ragte. Mit einem mahlenden Geräusch verschluckte die Maschine den Stollen und spuckte ihn nach etwas Geklirre nur wenige Sekunden später wieder aus - nicht nur glasiert, sondern fix und fertig im festlichen Christstollenkarton. Der Arm der servil schnurrenden Maschine senkte sich. »Fantastisch«, gluckste Mr Appleseed in sich hinein. »Und das, Kolleginnen und Kollegen, bedeutet im Kern Folgendes: Dank deutscher Spitzentechnologie erledigt eine einzige Maschine die Arbeit, für die man in unserem Fall fünf Letten und den Idioten benötigt - allerdings vier Mal so schnell und zu einem Bruchteil der Kosten.«
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»Andere Modelle können auf die Herstellung von Baguettes, Sodabrot, Pasteten oder was auch immer programmiert werden«, rief Mr Appleseed laut und zog so die Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Wir hoffen, Fresh & Crispy bis Ende des Monats auf vollautomatische Produktion umgestellt zu haben.« Der Luftdruck fiel spürbar, als dreihundert Menschen scharf einatmeten. »Wir fangen heute mit der Umstellung an«, fuhr Mr Appleseed fort. »Fresh & Crispy schließt heute Nachmittag seine Tore und bleibt geschlossen, bis die Umstellung komplett vollzogen ist. Mir bleibt also nur noch, euch für die Monate beziehungsweise Jahre engagierter Mitarbeit zu danken und für die Zukunft alles Gute zu wünschen.« Er schaute auf uns herunter, als sei er überrascht, dass wir überhaupt noch da waren. »Das ist alles.«
Niemand sagte etwas, niemand rührte sich.
»Moment!«, rief ich.
»Ja? Noch Fragen?«
»Wir sind also gefeuert? Alle?«
»Ich bin dir dankbar für die Frage. Es ist nämlich wichtig, dass in diesem Punkt erst gar keine Unklarheit aufkommt. Die Antwort darauf lautet: Nein.Die Behauptung, dass wir euch feuern, trifft nicht zu. Euer Arbeitgeber ist und bleibt die Agentur für Arbeitsvermittlung, von der wir euch geleast haben. Die konstruktivere Sichtweise ist also, dass die Agentur ihren Vertrag mit Fresh & Crispy hiermit erfüllt hat. Und ihr könnt stolz darauf sein, dass ihr eure Arbeit so gut erledigt habt. Ich sollte noch anfügen, dass jeder von euch, der über entsprechende IT-Qualifikationen verfügt, herzlich eingeladen ist, seinen Lebenslauf abzugeben, damit wir über eine etwaige Verwendung in unserer neuen Programmierabteilung für Arbeitsroboter entscheiden können. Noch irgendwelche Fragen? Nein? Gut.« Er stieg vom Podium und verschwand durch eine Tür in der Rückwand. Die Maschine schnurrte hinter ihm her.
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»Sollen wir die einfach damit durchkommen lassen?«, appelierte ich an meine Kollegen. »Sollen wir uns einfach wie Hunde auf den Bauch legen?«
»Was können wir schon machen?«, sagte Pavel und wandte sich zur Tür.
»Weiß nicht«, sagte ich. »Können wir nicht streiken oder so?«
»Die haben uns schon gefeuert, Arschgesicht«, wandte Edvin ein. »Macht nicht viel Sinn zu streiken, wenn man schon gefeuert ist.«
»Lass man, du hast schon genug getan«, bemerkte Dzintars mit seiner Reibeisenstimme grob.
»Ich? Was hab ich getan?«
»Gestänkert, dauernd gestänkert. Nur arbeiten hat dir ja nicht gereicht. Du musstet ja immer rumnörgeln.«
»Ich wollte doch bloß, dass ihr es leichter habt«, protestierte ich. »Das könnt ihr mir doch nicht vorwerfen.«
»Was weißt denn du, wie es uns geht«, grummelte Dzintars.
»Das reicht«, mischte Bobo sich ein. »Hat doch keinen Zweck, jetzt darüber zu streiten.«
»Vielleicht können wir ja was aushandeln«, gluckste Edvin vor sich hin. »Mit dieser É wie heißt die noch mal É Gewerkschaft der Arbeitsroboter, oder?«
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Artikel vom 17.06.2006