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Welche Vorfälle? Du willst mir ja wohl nicht die Schuld dafür geben, dass É«
»Dieses Golem-Gedöns, Charles, ist das etwa nicht dein kleines Steckenpferd? Aber egal, ich habe nicht die Absicht, das jetzt weiter zu erörtern, nur so viel: Was an jenem Abend vorgefallen ist, ist unentschuldbar. Du bist ein erwachsener Mann, du stehst auf eigenen Beinen, und wenn du deine höhere Macht denn unbedingt ignorieren und den gefährlichen Weg ins Verderben beschreiten willst, dann ist das deine Sache. Es gehört nicht länger zu meinen Aufgaben, dich daran zu hindern. Dass du einen zersetzenden Einfluss auf deine Schwester ausübst, werde ich allerdings nicht zulassen. Du weißt sehr wohl, dass sie so ihre Probleme hatte, und doch setzt du ihr weiter romantische Flausen in den Kopf. Ungeachtet dessen É« Sie sprach jetzt lauter, um meine Unschuldsbeteuerungen bezüglich jedweden Einflusses auf irgendeinen Aspekt von Bels Leben zu übertönen. »Ungeachtet dessen habe ich dennoch beschlossen, dich einzuladen, weil ich gegenüber Mr OÕBoyle die Dankbarkeit nicht nur des Theaters, sondern der ganzen Familie zum Ausdruck bringen will. Weil sein Engagement nämlich auch uns persönlich betrifft, Charles. Wie du weißt, steuern sie auch eine beträchtliche Summe zur Renovierung unseres Hauses bei. Und, was noch wichtiger ist, sie scheinen sich verpflichten zu wollen, all unsere Schulden zu tilgen und somit unsere finanzielle Zukunft auf absehbare Zeit zu sichern, was heißt, dass Amaurot auch im nächsten Jahrhundert in Familienbesitz bleiben wird. Ob wir das verdient haben oder nicht, ist natürlich eine andere Frage. Nichtsdestotrotz möchte ich die ganze Familie anwesend wissen, um diesen Anlass zu begehen, sogar jene schwarzen Schafe, die es anscheinend vorziehen, sich an den Rändern herumzudrücken.« Und dann fügte sie wohl überlegt hinzu: »Außerdem bin ich der Meinung, unbeschadet dessen, was ich gerade gesagt habe, dass du noch einmal deine Schwester sehen solltest, bevor sie abreist.«

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ir verriss es fast den Arm. »Bevor sie was?« Ich schüttelte den Hörer, als vom anderen Ende wieder mal nur Rauschen zu vernehmen war. »Bevor sie was?«
»É sonders viel Wert darauf legt«, tauchte als Erstes wieder aus dem Rauschen auf. »Trotzdem, das ist eine Frage der guten Manieren wie der Reife. Und hör bitte damit auf, jede deiner Fragen zu wiederholen. Das ist äußerst enervierend, Charles.«
»Entschuldige«, stammelte ich. »Was war das noch mal, was du gerade gesagt hast, das mit Bel und dass sie abreist?«
»Sie reist ab, ja«, sagte sie gereizt. »Also wirklich, dringt eigentlich irgendetwas bis zu dir durch, in deiner kleinen Höhle da draußen? Sie geht mit dem Kiddon-Mädchen für sechs Monate nach Jalta. Irgendeine Tschechow-Meisterklasse. Bel und Tschechow, du weißt ja.«
Mein Gehirn fühlte sich an, als wäre es in ein Hornissennest gefallen. Es brummten zu viele Fragen darin herum, als dass ich sie in irgendeine logische Ordnung hätte bringen können. »Was?«, sagte ich schwach.
»Jalta, Charles, das liegt in Russland. Die Planungen laufen schon seit Wochen. Das kommt davon, wenn man sich völlig abkapselt É«
»Und wann will sie É ich meine É wann?«
»Am Freitag, wie ich schon gesagt habe, deshalb ist ja das Essen am Donnerstagabend. Sozusagen eine Doppelfeier.«

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as Blut brodelte in meinen Ohren. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Tür und rutschte daran herunter bis in die Hocke. »Irgendeine Freundin von dem Kiddon-Mädchen war bei der Premiere von der Rampe«, sagte Mutter. »Sie hat Bel kurz danach angesprochen und ihr angeboten, an dem Kurs teilzunehmen. Frag mich aber nicht, warum - nach der Vorstellung.«
»Sechs Monate?«, flüsterte ich. »In Russland?«
»Es kostet ein Vermögen, ich weiß, ich weiß. Ich hatte meine Bedenken, besonders da die Gute im Augenblick kaum noch in der Lage ist, sich die Schuhe zuzubinden, ohne gleich eine deutsche Oper daraus zu machen. Ich hoffe, dass sie in den paar Monaten so ganz für sich allein wieder zu sich findet. Und vielleicht findet sie sogar wieder zurück zu uns, die wir hier unten auf dem Planeten Erde leben. Das Kiddon-Mädchen hat mir versichert, dass das ziemlich angesehene, ja sogar berühmte Leute sind.«
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Na, dieses Institut. Ich glaube, es heißt Knipper Foundation.«
»Nein, nein, ich meine das Kiddon-Mädchen. Wer ist das?«
»Du kennst sie, Charles. Kiddon, wie heißt sie noch gleich mit Vornamen? Jessica. Sie ist mit Bel zur Schule gegangen. Ihr Vater ist irgendein ein hohes Tier bei Deloitte and Touche.«
»Nie von ihr gehört«, sagte ich. »Die ganze Geschichte hört sich ziemlich absurd an, wenn du mich fragst. Bel so einfach mit irgendeiner völlig Fremden durch Russland gondeln zu lassen É«
»Sie ist keine Fremde, Charles. Ich habe am Telefon mit ihr gesprochen, und sie scheint ein sehr vernünftiges und ausgeglichenes Mädchen zu sein, das hoffentlich einen guten Einfluss auf deine Schwester haben wird.« Sie betonte das Wort gerade so stark, dass deutlich wurde, was sie meinte. »Mach bitte keinen Ärger deswegen, Charles. Ich glaube, es ist zu ihrem Besten.« Sie hielt inne. »Sie war hier nicht sonderlich glücklich in letzter Zeit«, sagte sie.
»Hätte sie mir etwa nichts gesagt?« Mir versagte fast die Stimme. »Ich meine, hätte sie sich nicht mal von mir verabschiedet?«
»Ich weiß nicht, Charles«, sagte Mutter überdrüssig. »Warum quälst du mich mit solchen Fragen? Wenn du wie jeder andere auf u.A.w.g. reagiert hättest, hätte uns das allen viel Ärger erspart. Kommst du jetzt, oder kommst du nicht?«
»Ja, ja, sicher, natürlich, aber É«
»Gut. Punkt acht, denk dran.« Mutters Stimme nahm einen metallisch nachhallenden Klang an; die Verbindung stand kurz vor dem Kollaps. »Förmlich, Charles. Und bring eine Tischdame mit. Candida Olé hat mir neulich gesagt, dass Patsy von ihren Reisen zurück ist. Wäre doch nett, wenn du sie É« Dann hörte ich in weiter Ferne ein berstendes Geräusch, und die Leitung war tot.

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em flüchtigen Betrachter mag es so vorkommen, als würde ich überreagieren. Aber ich kannte Bel - ich war der Einzige, der sie kannte. Ich war der Einzige, der begriff, was eine Geste wie diese bedeutete. Jalta, um Himmels willen! Wer um alles in der Welt war jemals nach Jalta gefahren? Nein, ich konnte zwischen den Zeilen lesen. Sie machte einen neuen Anfang, und sie machte ihn allein. Und selbst wenn sie in sechs Monaten zurückkäme - sechs Monate! -, zu uns würde sie nicht zurückkehren.
Vom Rest des Abends habe ich nur noch eine verschwommene Vorstellung. Ich erinnere mich vage daran, dass ich - nachdem ich den bulgarischen Cabernet weggeputzt hatte - zur Tankstelle ging und vier oder fünf Flaschen von diesem abscheulichen deutschen Riesling kaufte. Ich sehe mich in den frühen Morgenstunden schemenhaft im Schneidersitz auf dem Boden des Wohnzimmers sitzen und die letzten Reste des unaussprechlichen Inhalts eines Weinsacks austrinken, den ich unter der Küchenspüle gefunden hatte und der vermutlich für Notsituationen wie Hungersnöte oder Dürren gedacht war. Hemmungslos weinend durchsuchte ich ihren Koffer. Ich breitete die Kleidungsstücke auf dem Teppich aus und kippte den Inhalt ihres kleinen Schminktäschchens auf den Tisch: einen Lippenstift, einen Zerstäuber von Chanel oder so, ein zerknülltes Papiertaschentuch, das Telsinor-Handy, das jeder bekommen hatte, Münzen, die Perlen eines gerissenen Armbands. Ganz unten lag der silberne Anhänger, den sie in letzter Zeit immer getragen hatte. Als sei er im Besitz aller Antworten, zwinkerte er mir in seiner unsäglichen kindlichen Schlichtheit zu.
Allerdings ist es gut möglich, dass ich mir das alles nur einbildete. Woran ich mich als Nächstes erinnerte, war, dass ich um halb elf an einem Mittwochmorgen mit zitternden Händen an einem Fließband stand, das gerade stehen geblieben war.
Alle schauten mich an, weil sie dachten, dass ich mal wieder die Zuckergussmaschine blockiert hätte. Auch ich dachte das, es war die plausibelste Erklärung. Aber ich hatte sie nicht gestoppt, die Maschinen waren einfach stehen geblieben. Wir hielten nach Mr Appleseed Ausschau, der aber nirgendwo zu sehen war. Also zogen wir achselzuckend und vor uns hin murmelnd unsere Handschuhe aus. Dann schaltete sich kreischend der Lautsprecher ein, und eine dröhnende Stimme beorderte uns zu einer Versammlung in den Brotschneidebereich.

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as erregte noch mehr Aufsehen. Eine Versammlung? Wir hatten noch nie eine Versammlung gehabt. Ich hatte noch nicht mal gewusst, dass wir einen Lautsprecher hatten. Das war ziemlich aufregend - eine Versammlung, wie bei richtigen Arbeitern! Mit stolzgeschwellter Brust und aufgeregt schwatzend marschierten wir im Gänsemarsch durch die Flügeltür.
»Vielleicht kriegen wir eine Lohnerhöhung«, sagte Bobo.
»Vielleicht stellen sie einen neuen Verkaufsautomaten auf«, sagte Arvids bissig. »Wo anständige Snacks drin sind anstatt nur trockene Brotscheiben.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.06.2006