14.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 




die bosnier: Zu Diensten, Lehnsherr.
frederick (lachend): Auf, auf! Hier in der Gegend ist man nicht so förmlich. Na also! Sieht ganz so aus, als könnte die Lese kommen.
lopachin (zu sich selbst): Bah!
babs: Wie schön!

(Die Tür fliegt auf, und mamÕselle, das ulkige französische Hausmädchen, kommt herein.)

mamÕselle (theatralisch): Euer Exzellenz, das Fressen ist erdig.
inspektor (verwirrt): Verzeihung?
babs (lachend): Keine Sorge, Inspektor. Sie meint, das Essen ist fertig.
frederick: MamÕselle, MamÕselle - du kleines Dummerchen.

(Alle lachen und gehen zusammen ab - bis auf lopachin, der allein zurückbleibt.)

lopachin: Nun denn, ÝEuer ExzellenzÜ, sieht ganz so aus, als hättet Ihr mit Eurer altmodischen Sorte Idealismus die Schlacht gewonnen. Aber jetzt kenne ich Eure Achillesferse - Eure kränkliche Schwester Babs É und ich werde nicht ruhen, bis ich sie habe und Euer edles Weingut in Schutt und Asche liegt É

Ich stürzte mich in die Arbeit. Was hätte ich sonst tun sollen? Mindestens hundertmal rief ich zu Hause an: Bel weigerte sich, auch nur ans Telefon zu kommen. Je nachdem, wen ich gerade erwischte, hatte sie gerade das Haus verlassen oder fühlte sich nicht wohl oder war gerade im Bad - sie schien in jenen Tagen das Bad kaum noch zu verlassen. Darüber hinaus wusste ich nichts - ob sie ihren Stolz heruntergeschluckt hatte, ob sie wieder die rampe spielte und dem Publikum Abend für Abend ihren kleinen Akt der Rebellion vorführte, oder ob sie sich, geschnitten von allen, in ihr Elend zurückgezogen hatte. »Sie hat ihren Koffer hier stehen lassen«, sagte ich am Telefon. »Sie soll mich anrufen, wenn ich ihn rüberschicken soll.« Jeder versprach, es auszurichten. Mehr konnte ich nicht tun. Und am nächsten Tag rief ich wieder an und ließ ihr wieder das Gleiche ausrichten.
Wenn Mirela ans Telefon ging, legte ich sofort auf, auch wenn ein Teil von mir - so wie man Mördern nachsagt, es zöge sie an den Ort ihres Verbrechens zurück - danach gierte, mit ihr zu sprechen und sie anzuflehen. Einfach hinfahren konnte ich nicht, weil ich Angst hatte, ihr über den Weg zu laufen. Und so dehnte sich der November Richtung Weihnachten, die Straßen erstrahlten in Festbeleuchtung, verschlagen dreinschauende Männer verkauften von den Ladeflächen ihrer Pritschenwagen Tannen und Fichten, und ich betäubte mein schlechtes Gewissen mit Arbeit und versuchte an nichts anderes zu denken.

G
lücklicherweise gab es jede Menge Arbeit, die mich auf Trab hielt. November/Dezember ist für diejenigen von uns, die im Christstollengeschäft tätig sind, die arbeitsreichste Zeit, und so musste Veredelungsbereich B bis an seine Leistungsgrenze gehen. Alles schien in doppelter Geschwindigkeit abzulaufen. Die Zigarettenpausen waren gestrichen, und um unser Soll zu erfüllen, machten wir oft Überstunden. Edvin, Bobo, Pavel, Arvids, Dzintars und ich beugten uns stumm und gewissenhaft über unsere Maschinen, während die Lastwagen mit brummenden Motoren an den Laderampen warteten und Mr Appleseed, den Zeigestock hinterm Rücken, patrouillierend über den Fliesenboden schritt. Inzwischen hatte ich ein paar Brocken Lettisch aufgeschnappt und meisterte die Launen der Zuckergussmaschine so weit, dass aus mir ein beispielhafter Begradiger geworden war. Ich kann also auf meinen eigenen bescheidenen Beitrag zum jüngsten Kraftakt von Veredelungsbereich B verweisen, mit dem die C-Schicht überflügelt und der Luxusfresskorb sichergestellt wurde. Obendrein nutzte ich meine einflussreiche Stellung und meine guten Kenntnisse des gesprochenen Englisch dahingehend, dass ich Beschwerden der Mitarbeiter vortrug und versuchte, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Als zum Beispiel Mr Appleseed einmal in der Mittagspause geiferte, dass er sich nie und nimmer habe vorstellen können, jemals eine noch üblere Bande von Tagedieben als diese Letten zu Gesicht zu bekommen, bis er diese neuen Bastarde aus Estland kennen gelernt habe, da lenkte ich feinfühlig und unmerklich die Unterhaltung in Richtung Duschen.
»Was ist mit den Duschen, Arschgesicht?«
»Nun ja, es gibt keine.«

U
nd Mr Appleseed - das muss ich ihm zugute halten - hörte zu und versprach, das Thema beim nächsten Management-Briefing zur Sprache zu bringen. In der Zwischenzeit agitierte ich unter der Arbeiterschaft selbst und verbreitete Ideen, die ich von den Bauarbeitern zu Hause aufgeschnappt hatte. Das war nicht immer einfach. Die meiste Zeit schauten sich mich an, als hätte ich ihnen gerade vorgeschlagen, auf den Mond umzusiedeln. »Willst du deinen Job nicht behalten?«, fragten sie mich. »Willst du, dass sie uns alle wieder nach Hause schicken?«
»Natürlich nicht«, sagte ich dann. »Ich sag nur, dass wir uns organisieren müssen, damit sie uns nicht über den Tisch ziehen, damit auch wir ein anständiges Stück von dem Kuchen abbekommen.«
»Was für ein Tisch?«, sagten sie. »Und was für ein Kuchen?« Aber ich blieb hartnäckig. Und wenn mir alles besonders aussichtslos vorkam, sagte ich mir, dass ich es für Bel tat, dass meine Bemühungen einer inständigen Bitte an sie glichen, die sie irgendwie erreichen und in ihr Bewusstsein dringen würde, und dass sie dann, ohne eigentlich genau zu wissen, warum, aufhören würde, mich zu verachten, und wieder mit mir sprechen wollte.
Abends mühte ich mich an meinem Stück ab, was jedoch - um es auf den Punkt zu bringen - ein aussichtsloses Unterfangen war angesichts der neuen Herrschaftsverhältnisse im Theater. Zudem hatte mein Schurke Lopachin seit der Entdeckung der Bosnier den Einsatz erhöht. Im Moment tanzte er Frederick dermaßen auf der Nase herum, dass ich mich fragte, ob Letzterer seiner Rolle überhaupt gewachsen war. Trotzdem drängte ich energisch vorwärts. Wenn ich mein Anliegen auf Papier festhielte, dachte ich mir, werde sich schon eine wundersame Veränderung ergeben und das Universum wieder ins Lot gerückt.

U
nd dann, eines Abends, etwa zwei oder drei Wochen nach jenem verfluchten Rendezvous, klingelte das Telefon. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es für mich war. Ich legte den Stift zur Seite und stürmte ins Wohnzimmer. Aber es war nur Mutter, die mir eine Strafpredigt hielt, weil ich nicht auf ihre Einladung zu irgendeiner Dinnerparty reagiert hatte. Draußen stürmte es. Zudem war die Verbindung so schlecht, dass ich vor lauter Rauschen und Zischen kaum verstand, was sie sagte.
»Welche Dinnerparty?«, sagte ich.
»Na, die Dinnerparty, Charles, Herrgott noch mal! Das Telsinor-Dinner. Die Einladungen sind schon vor über einer Woche verschickt worden.«
»Ich hab keine bekommen«, sagte ich und blätterte durch die Post, die in der Obstschale lag: Rechnung, Rechnung, letzte Mahnung É
»Das ist wirklich höchst ärgerlich. Es ist mindestens eine Woche her, dass ich die Einladungen eigenhändig diesem É« Ein heulender Windstoß packte das Haus, und ihre Worte gingen im Pfeifen und Knacken der Leitung unter. »É sichergehen wollte, dass sie umgehend zugestellt werden.«
»Was?«, sagte ich und steckte mir einen Finger ins Ohr. »Von wo rufst du eigentlich an? Hört sich an, als stehst du mitten in einem Wirbelsturm?«
»Von meinem neuen Handy«, sagte sie. »Ich habe gesagt, dass ich die Einladungen diesem Freund von dir gegeben habe. Ich verstehe einfach nicht, warum du deine nicht bekommen hast É«
»Welchem Freund?«
»Du weißt schon, diesem Postmenschen, Macavity the Mystery Cat, oder wie der heißt.«
Ein mir vertrautes flaues Gefühl beschlich mich. »Das ist nicht mein Freund«, sagte ich.
»Das ist höchst ärgerlich«, sagte Mutter wieder. »Ich werde das nachprüfen. Nun ja, wie auch immer, das Essen ist am Donnerstag, punkt acht, schwarze Krawatte, und damit meine ich schwarze Krawatte, Charles.Das ist ein förmliches Essen, also keine von deinen albernen Fliegen, wenn ich bitten darf É«
»Aber worum gehtÕs denn da?«, unterbrach ich sie. »Du hast mir immer noch nicht gesagt É«
»Telsinor.« Ihre Stimme knackte wie ein altertümliches Grammophon. »Das habe ich dir jetzt schon drei oder vier Mal gesagt: Es ist ein Essen anlässlich des offiziellen Beginns der Partnerschaft zwischen Telsinor und dem Ralph Hythloday Centre. Nichts übermäßig Pompöses, etwa ein Dutzend Gäste. Aber Mr OÕBoyle hat freundlicherweise zugesagt, daran teilzunehmen, wir können uns also für seine Großzügigkeit persönlich bei ihm bedanken.«
»Oh«, sagte ich lustlos. Als ich ihr gerade mitteilen wollte, dass mir nicht ganz klar sei, warum sie mich da unbedingt dabeihaben wolle, kam Mutter mir zuvor. »Ich sollte hinzufügen, Charles, dass ich Bedenken hatte, dich überhaupt einzuladen. Sogar große Bedenken. Ich hatte gehofft, was möglicherweise naiv von mir war, dass deine Arbeit im öffentlichen Dienst dich das eine oder andere darüber gelehrt hat, dass man Verantwortung zu übernehmen und seinen Beitrag zu leisten hat. Doch nach den Vorfällen bei der Premiere zu urteilen, ist das wohl nicht der Fall gewesen.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.06.2006