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Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich war zu keinem klaren Gedanken fähig. Plötzlich erschien alles so scheußlich unwirklich. Konnten wir wirklich einfach so von vorn anfangen? Konnten wir das Haus einfach so vergessen und diesen unerträglichen Leuten überlassen? Unser ganzes Leben, alles, was wir waren, steckte darin. Auch hier, als Exilant in Franks Rattenloch, war ich immer davon ausgegangen, dass ich eines Tages zurückkehren würde, dass Amaurots Schicksal und das meine auf immer miteinander verbunden sein würden É Aber vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht hatte das Haus wirkliche eigene Interessen, die es zu verteidigen hatte. Vielleicht hatte es wirklich Ersatz gefunden und erschuf sich jetzt den Sohn und die Tochter, die wir nie richtig hatten sein können. Von nun an lag es an diesem neuen Paar, die Strategien für das Haus zu entwerfen, seine Hallen mit Frohsinn und Gelächter und dem feinsten Brokat zu schmücken, und das Leben zu leben, das den Abkömmlingen dieses großen É

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un ja, und wenn schon, wir hatten ihm unser Bestes gegeben, oder etwa nicht? Und war es nicht so am besten? Wir beide, zu guter Letzt vereint, auf grandioser Abschweifung durch die Welt. Und während in meinem Kopf der Gedanke an Höhe gewann und die Stadt mit all den Orten, die auf uns warteten, vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm, da platzte eine Windbö durchs Fenster. Sie blies durch die staubigen Ritzen und das Gingham-Tischtuch, durch den unbespannten Tennisschläger und die vergilbte Chantilly-Spitze, durch all die schäbigen Zeugnisse von hunderten aufgebrauchter Leben. Ich spürte, wie sich ein idiotisches, verblüfftes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Einen Augenblick lang hatte ich eine Vision, die die umnachtete Skyline Bonetowns überlagerte: Bäume, durch deren Geäst die Sonne glitzerte, und die Worte Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens É
»Nicht bewegen, Charles!« Bels aufgerissene Augen fixierten einen Punkt dicht über meiner rechten Schulter.
»He?«
»Da sitzt eine riesige Spinne auf deiner Rückenlehne.«
»Igitt!«
»Nicht bewegen!«, sagte sie noch einmal und blinzelte in das dämmerige Licht. »Gott, in meinem ganzen Leben hab ich noch keine so große Spinne gesehen!«
»Na los, mach sie fertig, schnell!«, jammerte ich.
»Das bringt Unglück, wenn man eine Spinne tötet«, sagte Bel gefasst.
»Tu irgendwas! Igitt, ich spür richtig, wie sie mich anschaut.«
»Okay, okay, halt still.« Ich biss die Zähne zusammen und blieb wie versteinert sitzen, während sie langsam den Arm nach der Fernsehzeitung ausstreckte, sie zusammenrollte und dann - mit überraschender Behändigkeit, angesichts all der White Russians - auf mich zusprang und einen blitzartigen Streich gegen die Rückenlehne meines Sessels führte. Und noch einen und noch einen - bis die unglückselige Spinne mit einem leisen Plumps auf den Boden fiel. Schweißgebadet sackte ich zusammen, während sich Bel schwankend hinter den Sessel begab, um die Überreste zu begutachten.
»Ist sie tot?«, fragte ich und fuhr mir mit den Fingerspitzen über die Stirn.
Sie sagte nichts.
»Hey, was ist?«, sagte ich.
Die wunderliche Stille hielt an. Und dann hörte ich sie sagen: »Moment mal, das ist ja gar keine Spinne.«

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n derselben Sekunde wusste ich, was passiert war. In der nächsten Sekunde schoss ich aus dem Sessel, doch es war schon zu spät. Bel richtete sich auf, und sie hielt einen langen schwarzen Handschuh in der Hand.
Natürlich hatte sie ihn wiedererkannt: Überflüssig zu erwähnen, dass er passte wie angegossen. Absolut keine Chance, mich da herauszulügen. Ich zog mich in Richtung Küche zurück, während sie verwirrt den Handschuh anstarrte und sich darüber klar zu werden versuchte, wie er in die Wohnung gekommen war. Als das Blut aus ihrem Gesicht wich, wusste ich, dass sie verstanden hatte. Und während sie sich langsam wieder auf dem Sofa niederließ und ins Leere starrte, wusste ich, dass ihr all das durch den Kopf ging, was sie gerade über Vertrauen und einen neuen Anfang gesagt hatte - besonders das über Vertrauen. Die Vision von den glitzernden Sonnenstrahlen, von den Bäumen - sie verpuffte.
»Ich kann das erklären«, sagte ich - natürlich konnte ich das.
»Ist sie hier?«, sagte sie und schluckte. »War sie die ganze Zeit hier?«
»Frag mich nicht so was«, sagte ich mit bettelnder Stimme. »Es ist nicht so, wie du glaubst.«
»Genau das hat auch Harry gesagt«, sagte sie traurig und schaute mich durch ihre verschmierte Maske an. »Exakt die gleichen Worte.«
»Ja, aber É«, sagte ich gedehnt. »Das heißt É
»Ach, Charles«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
Sie sagte das nicht verurteilend oder rachsüchtig. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich mich nicht so schlecht gefühlt. Stattdessen sagte sie es in müdem, traurigem Tonfall, urteilsfrei, wie die Menschen, die in den Nachrichten irgendein schreckliches Ereignis kommentieren, durch das sich die Menschheit auf entscheidende Weise disqualifiziert habe. Schon seit unserer Kindheit hatte Bel diese Art Tonfall für meine spektakuläreren Schnitzer reserviert. Wie ich jetzt so im Halbdunkel dastand, fühlte ich mich wie an einem bestimmten Nachmittag, der schon viele Jahre zurücklag. Aus der Kommode in seinem Arbeitszimmer hatte ich Vaters Taschenuhr mitgehen lassen und diese per Zeitungsanzeige verkauft, um Vater zum Geburtstag einen Digitalwecker schenken zu können. Mit Plänen hatte ich es nicht so, das war mehr Bels Stärke, und diesen Plan hatte ich sogar vor ihr verheimlicht - bis zu jenem Nachmittag, als ich mit dem sorgfältig in meiner Pausenbrotbüchse versteckten Wecker aus Dun Laoghaire nach Hause kam und sie vor vollendete Tatsachen stellen konnte. Ihre Reaktion entsprach jedoch nicht dem Maß an grenzenloser Bewunderung, das ein Plan dieser Größenordnung meiner Meinung nach verdient gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Sie öffnete ganz weit die Augen, schüttelte ganz langsam den Kopf und sagte: »Ach, Charles.« Es klang, als sei sie von Ehrfurcht ergriffen, als habe ich wie einer dieser Burschen aus Geschichten der Griechischen Mythologie, die sie immer las, irgendetwas Großes ruiniert, etwas sehr Großes, die ganze Welt zum Beispiel, und als gäbe es nichts und niemanden, der das je wieder in Ordnung bringen könnten.

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amals war ich mir jedoch sicher gewesen, im Recht zu sein. »Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst«, hatte ich gesagt. »Natürlich wird er nicht wütend. Warum sollte er wütend werden?«
»Du weißt wirklich gar nichts«, hatte sie gesagt und den Finger aus dem Mund genommen. »Das war die Uhr von Großvater.«
»Na und? Eine alte Uhr eben. Ich glaube, die ging nicht mal mehr. Die hier ist neu. Da ist ein Radio drin, und die Zahlen kann man auch im Dunkeln sehen. Er braucht einen Wecker. Er bleibt sowieso immer zu lange im Bett; deshalb brüllt Mutter ihn doch dauernd an. Wenn du willst, können wir es ihm auch zusammen schenken. Von mir aus.« Doch anstatt das freundliche und selbstlose Angebot mit Freuden anzunehmen, schlug Bel die Hände vors Gesicht, als hoffte sie die Angelegenheit dadurch aus der Welt schaffen zu können.
»Wir könnten vielleicht eine andere Uhr kaufen, nur zur Sicherheit«, sagte ich nachdenklich. »Eine, die genauso aussieht wie die alte. Vielleicht merkt er gar nicht, dass die alte weg ist. Na ja, vielleicht wird er ja gar nicht wütend.«

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och Bel stand nur da - kopfschüttelnd, den Oberkörper hin und her wiegend - und sagte immer wieder: »Ach, Charles.« Und zwar auf eine Art, die dir ziemlich bald unter die Haut und dann sogar richtig an die Nieren ging.
»Und, was sollen wir jetzt machen?«, brüllte ich schließlich. »Du musst ausreißen«, sagte Bel automatisch und ein bisschen zu fix für meinen Geschmack. »Gut«, erwiderte ich. »Aber du auch.« »Warum ich?«, sagte sie. »Weiß nicht«, sagte ich gereizt. »Weil du auch eine Strafe kriegst.« »Warum soll ich eine Strafe kriegen? Ich hab nichts getan.« »Du kriegst sicher auch eine. Nur so. Du weißt doch, wie sie sind. Na dann, machÕs gut, schätze, wir sehen uns nie wieder É« »Charles, warte!« Sie lief hinter mir her, aus ihrem Zimmer, die Treppe hinunter und dann nach draußen. Unser neues Leben im Pavillon verlief glücklich bis zum Einbruch der Nacht. Bel hatte zu jener Zeit eine Heidenangst vor der Dunkelheit, ja, sie konnte sich sogar mit der Idee von Dunkelheit als solcher nicht anfreunden und hegte tiefe Zweifel bezüglich der Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne, hatte man ihr erst einmal gestattet unterzugehen, je wieder aufgehen würde, auch dann noch, als ich ihr aus eigener Erfahrung, die, wie sie wusste, acht im Vergleich zu ihren fünf Jahren umfasste, versicherte, dass die Sonne in der Vergangenheit immer aufgegangen sei. »Und wenn sie doch nicht aufgeht?« Sie flüsterte - für den Fall, dass die Sonne mithören konnte. »Was machen wir dann?« Bei Einbruch der Nacht fing Bel also an zu weinen. Und sie weinte und weinte und war auch nicht dadurch zu beruhigen, dass ich das Radioteil von dem Radiowecker anstellte. Schließlich bekam bis ich es mit der Angst, dass sie irgendwann einfach aufhören würde zu atmen. Ich nahm sie an der Hand, und wir gingen über den Rasen zurück. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.06.2006