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Sohn einer wohlhabenden Mutter geistert in seinem Haus rum, dreht Däumchen und führt imaginäre Gespräche mit seinem gerade verstorbenen Vater É Gott, Charles, das kannst auch nur du glauben, dass irgendwer unser stumpfsinniges Leben irgendwie interessant oder erbaulich finden könnte.«
»Nur weil einer sein Leben nicht in einer Spülküche fristet, heißt das noch nicht, dass sein Leben uninteressant ist«, sagte ich störrisch. »Das ist ein Vorurteil, dass auch nur du hast. Übrigens, was du da gerade aufgezählt hast, hört sich ein bisschen wie Hamlet an.«
Bel brummte was von einem geistig Verwirrten, der einem eine Geschichte erzählt, und leistete keinerlei Widerstand, als ich mich bückte und die über ihr Gesicht verstreuten Blätter einsammelte. Stattdessen schweifte sie in düsteres Gebrabbel ab, das sich großteils in den Sofapolstern verlor: Eines Tages würde sie mir schon noch das eine oder andere über Vater erzählen, und dann würden wir ja sehen, ob das so lehrreich sei. Zu Gelegenheiten wie diesen erging sie sich gern in ominösen Äußerungen. Also beließ ich es dabei. Ich ging zu meinen Zimmer und warf, ohne hineinzuschauen, den Packen Papier durch den Türspalt. Ich zog die Tür zu, hörte das Klicken des Riegels, und sofort beruhigte sich mein pochendes Herz. Dann ging ich in die Küche und holte den Tee. »Darf ich fragen, welchem Umstand ich das außerordentliche Vergnügen deines Besuchs zu verdanken habe?«

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ie reagierte nicht. Die schlaffen Hände auf dem Bauch gefaltet, lag sie da und starrte die Decke an, als suche sie nach Sternbildern. Ich stellte die Tasse vor ihr auf den Tisch. »Bel, warum bist du gekommen?«
Nach einer kurzen Pause sagte sie langsam: »Ich bin ausgezogen.«
Mein Mut sank wieder. »Du bist aus Amaurot ausgezogen?«
»Ich habÕs keine Sekunde länger ausgehalten«, sagte sie. »Keine einzige Sekunde.«
»Aber du warst doch schon schlafen gegangen«, sagte ich flehentlich und händeringend. »Als ich gefahren bin, hast du doch schon im Bett gelegen. Was ist passiert, hat dir einer ein Loch in die Wärmflasche gepiekst?«
»Ich konnte nicht einschlafen«, sagte sie. »Die haben so einen Lärm gemacht. Lieder gesungen und so. Also bin ich noch mal auf einen Absacker nach unten. Danach gingÕs mir wieder besser, und ich bin unten geblieben. Ich hab White Russian getrunken, und als keine Sahne mehr da war, hab ich mir gedacht, mach logisch weiter und steig auf Black Russian um. Ich bin also in die Küche, um Cola zu holen. Und dann stand er plötzlich in der Tür.«
»Wer stand plötzlich in der Tür? Harry?«
»Nimm bloß den Namen nicht mehr in den Mund!« Sie drehte sich auf die Seite. »Ich will nicht mal den Namen mehr hören. Er ist reingekommen, und anstatt mich in Ruhe zu lassen, hat er angefangen, auf mich einzureden. Er hat geredet und geredet. Hat sich entschuldigt, dass er mir nicht früher davon erzählt hat, dass immer so viele Leute da waren und dass er keine Szene machen wollte, und dass, wenn wir wirklich was füreinander übrig hätten, keiner den andern besitzen sollte, und dass das Theater doch viel wichtiger sei als das zwischen uns. Und ich steh da und hör mir das alles auch noch an, dabei wollte ich mir nur eine Cola holen. Und plötzlich kommt mir der Gedanke, wie irreal das alles ist, dass das so eine Art Zeichen ist, wie wenn das Universum mir ein für alle Mal zu verstehen geben will, hau ab, verschwinde, sofortÉ«

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ch ließ die Schultern hängen. »Jetzt fang bloß nicht wieder mit deiner Theorie von dem Haus an«, sagte ich matt. »Ich hab nämlich auch so schon genug zu knabbern, da muss ich nicht auch noch hören, dass ich eigentlich gar nicht mehr existiere.«
»Nein, aber É na ja, eigentlich doch.« Sie setzte sich auf und schaute mich durch ihre verlaufene bunte Maske ernst an. »Ich meine, in der Küche hab ich plötzlich gewusst, dass sich zu Hause nie was ändern wird. Harry ist das eine. Was ihn angeht, hattest du völlig Recht. Wenn man es genau bedenkt, ist er mit ihr wirklich besser dran. Die passen zusammen. Aber die simple Wahrheit ist, dass es gar keine Rolle spielt, ob wir zu Hause ein Theater haben oder nicht. Das hab ich erkannt, als er da in der Küche auf mich eingeredet hat. An den Gründen, warum ich immer von Amaurot weg wollte, hat sich nichts geändert. Daran wird sich nie was ändern. Die gehören nämlich zum Haus. Und plötzlich war es so, als ob eine Nebelwand aufreißt. Ich konnte sehen, dass im Grunde alles, was ich gemacht hatte, falsch war. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, dass sich was ändert. Ich hab ihm also weiter höflich zugehört und bin, als er fertig war, nach oben gegangen, hab meinen Koffer gepackt und dann ein Taxi gerufen. Das hätte ich schon vor Jahren machen sollen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst.«
Bel und ihre Zeichen! Alles musste ein Zeichen sein, nichts konnte ganz simpel das Ergebnis mangelnder Vorausschau oder schlechter Planung sein. »Du kannst doch nicht einfach so ausziehen«, sagte ich schwach. »Ich meine, wo willst du denn hin?«
Mit großen Augen, als sei sie überrascht, dass ich mir das nicht denken konnte, schaute sie mich an. »Na ja, ich hab gedacht, ich bleib hier bei dir.«
»Hier?«, sagte ich. »Bei mir? Jetzt sofort?«
»Bei dir und Frank«, sagte sie. »Warum nicht? Könnte doch ganz lustig sein.«
Ich lief nervös im Zimmer herum. Beunruhigt rang ich die Hände und warf gelegentlich einen Blick auf die Schlafzimmertür. »Wär das nicht ziemlich unangenehm? Ich meine, wegen der Geschichte zwischen dir und Frank?«
»Da ist keine Geschichte«, sagte Bel. »Er hätte sicher nichts dagegen, da bin ich mir sicher.«
»Ja, aber É Wo willst du überhaupt schlafen?«
»Hier auf der Couch, hab ich gedacht. Und verschon mich bitte mit diesem moralisierenden Beschützergedöns É«
»Nein, nein, das ist es nicht, es ist nur so, dass hier auf der Couch normalerweise Droyd schläft.«
»Na, dann eben im Sessel oder auf dem Fußboden, ist mir egal. Charles, würdest du dich bitte hinsetzen. Was schleichst du hier die ganze Zeit im Zimmer rum?«
»Ich schleiche nicht rum!«
»Doch, du schleichst rum, und das macht mich nervös«, sagte sie.
So zwanglos es mir möglich war, setzte ich mich ihr gegenüber in den Sessel.
»Kann es sein, dass du mich nicht hier haben willst? Wenn ja, dann sag es einfach.«
»Nein, nein«, sagte ich abwiegelnd und beugte mich vor. »Ganz und gar nicht, ich mache mir nur Sorgen, dass du das alles ein bisschen überstürzt.«
»Ich überstürze nichts«, sagte sie. »Ich rede doch schon seit Jahren davon.«
»Ja, aber É« Unwillkürlich sprang ich auf und fing wieder an, im Zimmer herumzugehen. »Versteh doch, das Gefährliche an so einer Situation ist doch É Ich meine, oft ist es bei solchen Sachen einfach das Beste, wenn man nach Hause geht und eine Nacht drüber schläft, und dann am nächsten Morgen, wenn man aufwacht und das Ganze bei Licht betrachtet, dann É«

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ch hatte alle Zeit der Welt, um das bei Licht zu betrachten. Ich bin mir absolut sicher, Charles. Deshalb musste ich ja auch sofort weg, damit ich mich nicht noch mal einwickeln lasse und alles nur noch komplizierter wird. Weil É vielleicht bin ich ja doch nicht zur Schauspielerin bestimmt. Vielleicht liegt meine Bestimmung ganz woanders, und ich hab noch gar keinen Schimmer, wo.« Sie rieb sich aufgeregt ein Auge und schmierte sich dabei einen schwarzen Streifen Lidschatten bis zum Haaransatz. »Ich hab mir das so gedacht: Ich bleib hier, bis ich weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will, und dann könnten wir uns ja zusammen eine Wohnung suchen É«
Ich war wie vom Donner gerührt. »Zusammen?«
»Ich hab nicht viel Geld, du müsstest mir für kurze Zeit ein bisschen unter die Arme greifen. Ich suche mir einen Job, und in ein paar Monaten, wenn ich an das Geld aus meinem Treuhandvermögen É«
»Moment mal«, sagte ich. »Wieso zusammen?«
»Für zwei findet man leichter eine Wohnung«, sagte sie. »Und du willst doch auch hier raus, oder?«
Ich ließ mich wieder in den Sessel fallen und fuhr mir mit der Hand übers Kinn. »Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Kein White-Russian-weiße-Mäuse-Hirngespinst oder so?«
»Ich kann nicht mehr zurück, Charles«, sagte sie ruhig. »Ich kann einfach nicht mehr zurück É zu ihm und zu ihr, zu Mutter und zu diesen schrecklichen Telefontypen mit ihren Marketingstrategien. Das ist wie É wie Vichy. Schon bei dem Gedanken, dass ich da auf der Bühne seinen Text sprechen soll, wird mir übel.«
»Aber was ist mit deinem alten Kumpel Tschechow? Ihr wolltet doch dieses eine Stück von ihm auf die Bühne bringen. Was ist damit?«
»Sie haben sich gegen Tschechow entschieden«, sagte sie.
»Gegen Tschechow? Warum?«
»Gibt keine Telefone in dem Stück«, sagte sie achselzuckend. »Du siehst also, du bist der einzige Mensch, Charles, den ich noch habe. So traurig das klingt, aber es scheint ganz so, als ob du in meinem Leben als Einziger übrig geblieben bist, dem ich wirklich vertrauen kann.« Sie stellte ihre Tasse ab und drückte die Knie zusammen. »Was meinst du? Ein vollkommen neuer Anfang, das wär doch toll, meinst du nicht?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.06.2006