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Ich hatte vorgestern einen Käsekuchen gekauft, von dem noch etwas im Kühlschrank sein müsste. Doch plötzlich tauchte ihr nackter Arm über mir auf und zupfte den Büstenhalter vom Lampenschirm. »Was machst du da?«, brummte ich verschlafen.
»Ich muss los«, flüsterte sie.
»Du musst los?«, sagte ich und schaute sie blinzelnd an. Kein Zweifel, sie machte sich klar zum Aufbruch. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Harry fragt sich sicher schon, wo ich bin.«
Nur den Namen zu hören, fühlte sich an wie ein Messer zwischen den Rippen. Ich rang dezent nach Luft und umklammerte meine Brust. Doch das war nicht der Moment für theatralische Spielchen. Plötzlich war sie ganz effiziente Energie, richtete sich das Haar, suchte zwischen den Laken nach einem Strumpf, unmöglich, da angemessen Widerspruch einzulegen.
»Wie willst du überhaupt nach Hause kommen, hier gibtÕs keine É«
»Õtschuldige, Charles, gib mir doch das da mal rüber É«
»In der Gegend kriegst du nie ein Taxi. Außerdem kannst du hier in so einem Kleid sowieso nicht auf die Straße.«
»Ich weiß mir schon zu helfen. Machst du mir bitte den Reißverschluss zu?«
»Nein«, sagte ich. Das hatte zumindest den Effekt, dass sie für einen Augenblick innehielt. Sie drehte sich um und schaute mich an.
»Bleib, bitte. Es ist doch sowieso schon fast Tag. Warum willst du nicht dableiben?«
»Ich kann nicht, Charles«, sagte sie mit einem nur winzigen Hauch von Unmut. »Wir treffen uns um neun mit den Telsinor-Leuten, wir wollen eine Strategie ausarbeiten. Das ist ein großer Tag, und da will ich fit sein.« Sie hob herausfordernd den Kopf und musterte mich auf fast neckische Weise. Dann setzte sie sich auf den Rand der Matratze und legte eine Hand auf meinen Unterarm. Kühl zog ich ihn weg. Sie schien ehrlich überrascht zu sein. »Ich dachte, das wäre geklärt«, sagte sie. »Ich dachte, wir sind uns einig.«
Ich schürzte die Lippen. »Na ja, vielleicht doch nicht«, sagte ich. Ich kam mir vor wie ein dummer Junge, den man reingelegt hatte.

M
irela seufzte, rieb sich die Hände und schaute hinunter auf den kalten Stumpf ihrer Prothese. »Wir hatten doch ein paar schöne Stunden, oder nicht? Aber jetzt muss jeder wieder sein eigenes Leben leben. Das weißt du.«
Ich stand auf und stapfte im Zimmer herum. »Aber du É duÉ«, sagte ich aufgeregt. »Du liebst ihn doch gar nicht.«
Wenn ich einen Kübel Eiswasser über ihr ausgekippt hätte, hätte sie nicht kühler reagieren können. Die Raumtemperatur fiel spürbar. »Ich habe nie gesagt, dass das etwas mit Liebe zu tun hat.« Ihre Stimme klang so unpersönlich wie die einer Klavierlehrerin, die die stockenden Tonleitern eines Schülers moniert. »Wen oder was ich liebe, ist meine Sache. Ich habe gesagt, dass ich ihn brauche. Charles, setz dich bitte.«
»Ihn brauche? Für so was gibtÕs auch noch ein anderes Wort.« Als wäre unsere kleine Szene noch nicht vollkommen, als müsste sie zum Abschluss noch richtig eklig werden, war von der Haustür ein betrunkens Hämmern zu hören. Droyd hatte mal wieder seine Schlüssel vergessen.

M
irela griff hinter sich und machte den Reißverschluss zu. Dann stand sie auf und zog mich nah zu sich heran. »Ich habÕs dir doch erklärt«, sagte sie. »Ich hatte ein früheres Leben. Aber das gibt es nicht mehr. Alles, woran ich mich erinnere, existiert nicht mehr. Und die Welt hat daneben gestanden und hat nichts getan. Von meiner Heimat ist nur eine einzige Sache übrig, Charles, hier, schau genau hin!« Sie zog ihr Kleid hoch, und die grobschlächtige Metallschiene und das zerkratzte, versengte Stück Holz kamen zum Vorschein. Sprachlos starrte ich es an, dann schaute ich ihr ins Gesicht. Nach außen machte sie einen gefassten Eindruck. »Verstehst du denn nicht, Charles?«, sagte sie leise. »Muss ichÕs dir vorbuchstabieren? Nichts von all dem ist mir wichtig. Nicht deine Schwester, nicht das Haus, in dem du aufgewachsen bist. Ich werde als Schauspielerin in dem Theater auftreten. Und wenn sie wollen, dann werde ich von Plakatwänden runterlächeln. Ich werde um den Erfolg kämpfen. Aber nichts davon bedeutet mir etwas. Wenn ich mir die Leute um mich herum anschaue, dann sehe ich nur eins: kleine Pappfiguren in einem Brettspiel.«

S
ie tätschelte meine Hand. Wie paralysiert begegnete ich dem milden Ausdruck dieser fremdartigen blauen Augen. Irgendwo weit, weit weg ging das Hämmern wieder los. »Willst du nicht aufmachen?«, sagte sie.
Wie in Trance stand ich auf, warf mir meinen Morgenmantel über und ging ins Wohnzimmer. Die Tür vibrierte. »Ja, ja, schon gut, verdammt noch mal É« Fluchend machte ich die Tür auf. »Oh«, sagte ich.
»Kann ich reinkommen?«, sagte Bel.
Das konnte unmöglich wahr sein. »Äh É« Ich kratzte mir mit dem Fingernagel die Unterlippe. »Ja, weißt du, eigentlich passt mir das jetzt überhaupt nicht in den É«
Aber sie war mit ihrem Koffer im Schlepptau schon an mir vorbeigewankt. »Es ist ja stockdunkel«, verkündete sie. »Wie kannst du da überhaupt was sehen?«
Ich schluckte und wischte mir am Morgenmantel die Hände an. »Nun ja, das ist weil É Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Als sie den Ausläufern des Schrottgebirges gefährlich nahe kam, hastete ich hinter ihr her und bugsierte sie in eine andere Richtung. Dann zündete ich mit zitternden Fingern die Laterne an. »Was, zum Henker, willst du eigentlich hier? É Großer Gott!«

S
ie sah völlig fertig aus. Das auf dem ganzen Gesicht verlaufene Make-up und die verschmierten schwarzen Augenringe gaben ihr ein geisterhaft kubistisches Aussehen. Das reizende champagnerfarbene Kleid unter dem roten Mantel hing schlabberig an ihr herunter. Es sah aus wie die Flügel einer betuchten Motte, die in einen Regenschauer geraten war. Nur dass es nicht regnete. Schwankend stand sie im Lichtkegel der Laterne vor mir. Was sie absonderte, war weniger ein Geruch, denn ein Alkoholdunst, der so toxisch war, dass es mir schon vom Danebenstehen das Wasser in die Augen trieb.
»Du bist ja ganz rot«, sagte sie und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du gemacht?«
»Gemacht?«, piepste ich und warf einen besorgten Blick zu dem dunklen Spalt meiner angelehnten Zimmertür. »Überhaupt nichts. Kommt wahrscheinlich von der Hitze. Ziemlich warm für die Jahreszeit, findest du nicht auch?« Doch sie hatte ihre Frage schon wieder vergessen und wankte, benebelt wie sie war, auf die Couch zu und stellte ihren Koffer darauf ab. »Du, BelÉ« Ich drückte mich schnell an ihr vorbei, nahm das mit Lippenstift verschmierte Weinglas vom Tisch und schob es in die Tasche des Morgenmantels. »Du, Bel, ich É«
»Es riecht so angenehm, kann mich gar nicht erinnern, dass es hier so É«
»Ach ja, richtig.« Ich öffnete das Fenster und fächelte wie wild frische Luft ins Zimmer. »Laura, als sie neulich da war, da hatte sie so einen gigantischen Potpourritopf dabei. Du, Bel É«
»Hast du was zu trinken da?«
»Schätze, du hast genug für heute«, sagte ich und fügte dann zögernd hinzu: »Aber ich kann dir einen Tee machen, wenn du willst.«
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, sagte sie und ließ sich aufs Sofa fallen. »Dreimal hab ich dem Taxifahrer gesagt, dass er anhalten soll, weil ich gedacht hab, ich muss É« Sie starrte brütend in ihre Handtasche, als enthalte sie den Schlüssel für den ganzen Schlamassel. Dann drehte sie sie um und schüttete sie aus, ohne Erfolg. »Ich glaube, der hat mich beschissen«, sagte sie.

I
ch ging in die Küche und setzte den Wasserkessel auf, dann stand ich vor der Spüle und zermarterte mir das Hirn. Was wollte sie hier? Wie bekam ich sie bloß wieder aus der Wohnung? Ausgerechnet heute Nacht musste ihr einfallen, mich zu besuchen É
Das Wasser kochte. Wenigstens war Mirela so schlau gewesen, im Zimmer zu bleiben. Wenigstens etwas. Gut möglich, dass Bel gar nichts merkte, betrunken wie sie war.
»O mein Gott É Was ist das denn?«

I
ch sprintete ins Wohnzimmer. Sie hielt einen Stoß Schreibmaschinenpapier in der Hand und las.
»Leg das wieder hin!«, befahl ich ihr.
»ÝIch hab Bosnier unterm Dach. Eine Tragödie in drei Akten von Charles Hythloday.Ü«
»Bitte, gib das her.« Ich streckte die Hand aus. Sie drehte sich weg und blätterte um.
»ÝHandlungÜ.« Sie blätterte weiter, dann wieder zurück, dann durch die anderen Seiten. »Das ist alles?«
»Das braucht halt seine Zeit«, sagte ich hochnäsig. »Wenn manÕs richtig machen will.«
»Ich hab Bosnier unterm Dach.« Sie drehte sich auf den Bauch. »Bitte, sag nicht, dass du deine Autobiografie schreibst.«
»Es enthält autobiografische Elemente, sicher. Aber wie du siehst, habe ich aus dem Turm eine Dachkammer gemacht. Ich hab mir gedacht, dass die Leute dann einen besseren Bezug dazu haben.«
»Einen besseren Bezug!« Stöhnend drehte sie sich wieder auf den Rücken und legte sich die Blätter aufs Gesicht.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.06.2006