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Die Stiftung lässt noch
immer auf sich warten

Kein Rummel im Geburtsort Friedrich Nietzsches

Von Tobias D. Höhn
Röcken/Magdeburg (dpa). Für die Freunde Friedrich Nietzsches ist die 170-Seelen-Gemeinde Röcken am südlichsten Zipfel Sachsen-Anhalts Pflicht. In der damals sächsischen Provinz wurde im Jahre 1844 Friedrich Nietzsche geboren und 1900 bestattet.
Nietzsche auf einem Plakat in der Gedenkstätte.

An den berühmtesten Sohn des Ortes erinnert heute jedoch kein großes Denkmal, und auch mit der touristischen Vermarktung eines der bedeutendsten Denker des 19. Jahrhunderts sieht es schlecht aus. Nur der ohnehin interessierte Besucher findet ein tadellos gepflegtes Familiengrab, eine schlichte Skulpturengruppe und eine fachkundig arrangierte Ausstellung - zurückhaltende Ehrungen für den Antichristen Nietzsche auf kirchlichem Terrain. Die Skulpturengruppe des Bildhausers Klaus F. Messerschmidt, die im Vorfeld für Diskussuionen sorgte, wurde 1994 für eine Ausstellung zum 150. Geburtstag Nietzsches angefertigt und später vom Kirchenkreis gekauft. Die Nietzsche-Gesellschaft distanzierte sich von dem Kunstwerk, weil sie sich in ihrem freien Gedenken an das Sprachgenie behindert fühlte.
Die in den vergangenen Jahren entstandene Schau, präsentiert in einer kleinen Kate im Kirchgarten, steht in kaum einem Touristenführer und lockt dennoch Insider aus aller Welt an, wie das Gästebuch verrät. Australier, Italiener, Türken, Japaner, Schulklassen, Professoren und dazwischen eine Autogrammkarte des früheren Außenministers Joschka Fischer mit der kurzen Notiz »Herzlichen Dank, 6.6.04«. Viele der Gäste legen frische Blumen am Nietzsche-Grab nieder, eine Langzeitarbeitslose kümmert sich liebevoll um das äußere Antlitz und zeigt es Besuchern.
Weil die Finanzierung jedes Jahr aufs Neue eine Wackelpartie ist, wie Dorfpfarrer Joachim Salomon erzählt, gibt es seit Jahren die Idee, eine landesweite Nietzsche-Stiftung zu gründen. Denn der Freigeist hinterließ in Sachsen-Anhalt seine Spuren wie nirgendwo anders in Deutschland. Aufgewachsen in Röcken und der Domstadt Naumburg, besuchte er das Internat in Schulpforta, bevor er nach Leipzig und Bonn zum Studieren ging und einen Ruf an die Universität Basel erhielt.
Während des vier Jahrzehnte währenden DDR-Regimes wurde Nietzsche zum Vorläufer des Nationalsozialismus degradiert. Die wenigen Besucher am Grab des Philosophen sollen von der Staatssicherheit beobachtet worden sein, erzählt man sich. »Wenigstens wurde das Grab nicht geschändet«, berichtet Salomon. »Nietzsche war eine Herausforderung an die Kirche des 19. Jahrhunderts, als es um die Ausfechtung des Macht- und Wahrheitsanspruches ging.«
Mittlerweile haben sich Pastor Salomon mit dem streitbaren Philosophen und das kleine Röcken mit seinem großen Sohn arrangiert. Auch wenn das Werk des flammenden Antichristen in der Gemeinde immer noch umstritten ist, soll mehr für den berühmten Denker getan werden. »Wir wollen das Nietzsche-Erbe auf gesunde Füße stellen«, sagt auch Jürgen Engelmann vom Magdeburger Kultusministerium.
Die Vorbereitungen für die geplante Nietzsche-Stiftung sind abgeschlossen, sogar das Modell eines in Naumburg zu bauenden Dokumentationszentrums liegen vor, doch noch fehlt der nötige Kapitalstock von drei Millionen Euro. »Ich mache keinen Hehl daraus, dass die Errichtung der Stiftung sich als schwierig gestaltet«, sagt Engelmann. Auch, weil Nietzsche bis heute oft falsch interpretiert werde.
Dabei schrieb schon der Lyriker und Essayist Gottfried Benn 1950: »Was kann Nietzsche dafür, daß die Politiker nachträglich bei ihm ihr Bild bestellten? (...) Er als Mensch war arm, makellos, rein - ein großer Märtyrer und Mann. (...) Ich könnte hinzufügen, für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und mit Luther das größte deutsche Sprachgenie.«

Artikel vom 18.05.2006