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Egal«, sagte Mirela.
Wahrscheinlich wäre es am besten gewesen, wenn ich sie einfach hätte stehen lassen. Was hatten wir uns nach diesem Abend schon noch zu sagen? Aber etwas an ihrer Verwirrtheit, vielleicht die panischen Augen oder die völlig bedeutungslosen Gesten, zog mich hypnotisch an - so wie man von einem Autounfall angezogen wird. Es brachte eine Saite in mir zum Klingen, trotz allem oder gerade deswegen. Im Leben ist es halt anders als im Kino: kein unheilvolles Anschwellen der Filmmusik, keine fatalistische Kameraperspektive von oben, kein Hinweis darauf, dass dies der Augenblick ist, an dem dein Leben sich ändert; stattdessen ist es so, als ob ein Zug geräuschlos auf andere Geleise überwechselt, als ob er während der Fahrt, mitten in der Nacht, in ganz anderer Richtung weiterfährt. Sie schaute mich wieder mit diesem seltsam entblößten Gesichtsausdruck an. »Bitte, Charles«, sagte sie. Und mir fiel ein, wie sie neulich auf der Treppe ihre Hand auf die meine gelegt hatte, wie ihr Blick so schwerelos und beharrlich auf mir geruht hatte wie ein Blütenblatt auf einer Wasserfläche.

D
ie Taxifahrt dauerte fast eine Stunde, in der keiner ein Wort sagte. Sie hatte den Kopf ans Fenster gelehnt, und die dunkle Stadt huschte durch ihr Spiegelbild. Als wir uns Bonetown näherten, schien sie munterer zu werden. Sie setzte sich auf, schaute sich um und registrierte die Umgebung mit einem leichten Nicken, als ob ihr der Anblick der trostlosen Wohnblocks und ramponierten Straßen eine diffuse, in ihrem Kopf herumspukende Frage beantwortete.

I
ch wies den Fahrer an, vor Franks Haus zu halten. Ohne ein Wort stieg sie aus und wartete auf dem Gehweg, bis ich bezahlt hatte. Sie zitterte vor Kälte in ihrem Ballkleid. Vom Ende der Straße war das kurz darauf verstummende Klappern eines Einkaufswagens zu hören - als hätte sich ein Tier in die Büsche geschlagen.

F
rank war noch in Amaurot, von Droyd keine Spur. Dichter Rauch und ein chemischer Geruch hingen in der Luft. Ich zündete die Laterne an, und weil mir nichts Besseres einfiel, fragte ich sie, ob sie etwas zu trinken wolle. Als ich mit zwei Gläsern und einer Flasche bulgarischem Cabernet wieder aus der Küche kam, ging sie gerade langsam im hinteren Teil des Zimmers herum und betrachtete die Schrottkollektion, welche bei der spärlichen Beleuchtung jämmerlicher denn je wirkte. »Was ist das für ein Zeug?«
»Gehört alles Frank. Das ist sein Beruf. Er holt das Zeug aus alten Häusern raus und verkauft es dann an Händler, Dekorateure und so.«
»Mmmhmm.« Sie hob ein mottenzerfressenes Plüschteil auf, das mal der Kopf eines Schaukelpferds gewesen sein musste, und drehte es hin und her.
»Die Ladung hier hat er auf einer Auktion ersteigert. Hat irgendeinem Einsiedler gehört. Fast alles Müll. Der Typ stand auf ausgestopfte Tiere. Verkaufen sich schlecht, sagt Frank, zumindest im Moment.«

S
ie nickte abwesend und legte den Pferdekopf wieder hin. Immer noch schwebten dichte Rauchschwaden von der Decke herab und schmiegten sich wie durchsichtige Stolen um ihre nackten Schultern. »In den Dörfern, durch die wir gekommen sind, haben wir dauernd so was gesehen«, sagte sie und strich mit den Fingern über den Plunder. »Wenn die Einwohner geflohen waren, sind die Soldaten gekommen und haben alles mitgenommen, was die Menschen zurücklassen mussten. Waschmaschinen, Videorekorder, Bilderrahmen, Teppiche, Öfen. Die Sachen standen am Straßenrand, bis die Lastwagen kamen. Dann wurde alles aufgeladen, abtransportiert und woanders verkauft. Die leeren Häuser haben sie abgebrannt.«

E
s war das erste Mal, dass ich sie darüber sprechen hörte, was in ihrer Heimat passiert war. Ich sagte nichts und wartete ab, ob sie noch mehr erzählen würde. Doch sie drehte sich um und setzte sich mit ihrem Glas auf einen Stuhl. Ich saß ihr gegenüber auf der Fensterbank. Sie lächelte gekünstelt und legte die Hände in den Schoß. »Hier lebst du jetzt also«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich.
»Kann man sich kaum vorstellen - du mitten in einem Haufen Gerümpel.«
»So übel ist es auch wieder nicht«, sagte ich.
»Wahrscheinlich.«

I
ch klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Was wollte sie von mir? Erwartete sie etwa, dass ich hier mit ihr Smalltalk machte, während sie das baufällige Ambiente begutachtete? Gereizt musterte ich sie von Kopf bis Fuß und wünschte mir, sie würde gehen. Als ich ihrem gesenkten Blick zu den im Schoß gefalteten Händen folgte, sagte ich plötzlich: »Das sind doch Bels, oder?«
»Was?«
»Die Handschuhe?«
»Die?« Als bedrohte ich sie mit einer Waffe, hob sie verwirrt die Hände in die Höhe. »Ja, stimmt, die hat sie mir geschenkt.«
Ich erinnerte mich, dass sie eins von Vaters vielen Geschenken für sie waren. Er hatte ihr immer teure Dinge gekauft, die sie dann nie anzog. Bel mochte keine neuen Kleider, sie hatte lieber welche, die lebten, wie sie immer sagte, darum ginge es doch bei Kleidern, oder nicht?
»Ist schon eine Zeit lang her«, sagte Mirela. »Schätze, als du im Krankenhaus warst. Ich hatte ja keine eigenen Sachen.« Sie spreizte ihre Finger und wedelte spielerisch damit herum. »Damals sind wir noch besser miteinander ausgekommen.« Ich reagierte nicht auf ihr wehmütiges Lächeln. Sie seufzte und fing an, nacheinander jeden Finger ihrer linken Hand zurückzubiegen. »Ich wollte nicht, dass alles so kommt, Charles. Ich wollte niemandem wehtun. So was tut man halt als Mädchen. Deine Schwester hätte es genauso gemacht. Auch wenn sie das nie zugeben würde.«
»Wenn du die Sache mit Harry meinst É«, sagte ich mit eisiger Stimme.
»Kein Wort über Harry!«, schrie sie. Ihr Kopf fuhr herum, sodass ihr die Haare ins Gesicht flogen. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Ich will nicht über ihn reden. Das verstehst du doch, oder?«

I
ch zog mich in mein Fensterviereck zurück. Sie nahm einen hastigen Schluck und schaute dann hinunter in ihren Schoß. »Ich will nur sagen, dass so was eben passiert, wenn jeder Mann, der einen küsst, gleich glaubt, er hätte einen wachgeküsst. Und jeder will, dass du eine bestimmte Rolle spielst: das tapfere kleine Flüchtlingskind, die gehorsame Tochter, das Ausländermädchen mit den lockeren Sitten É« Sie machte eine schnelle, mechanische Handbewegung. »Also geht man damit um, so gut es eben geht. Man kann das Leben ja nicht einfach anhalten, oder? Man kann sich seinen Part nicht aussuchen, man nutzt die Möglichkeiten, die da sind, und man setzt die Mittel ein, die man hat. Und so wird aus deinem Leben etwas, das sich immer weiter von dir selbst entfernt. Hört sich zynisch an, ich weiß. Aber so ist es!«

S
ie stand auf und ging zurück zu dem Berg aus Gerümpel. Mit gesenktem Kopf stand sie davor und berührte dessen Oberfläche. Sie stand mit dem Rücken zu mir, als sie fortfuhr. »Du darfst eins nicht vergessen.« Sie sprach jetzt leiser, und die Worte kamen nur stockend, so als sträubte sie sich dagegen, weiterzureden. »Ich hab das alles schon mal durchgemacht. Ich hatte schon früher ein Leben, vom dem keiner hier was weiß. Ich hatte Freunde. Ich hatte jemanden, den ich geliebt habe. Wieso hat mich noch nie jemand danach gefragt, Charles? Wenn alle so besorgt um mich sind, wieso hat dann noch nie jemand danach gefragt? Ich habe ihn geliebt, und er hat mich geliebt.Wir sind am Fluss spazieren gegangen, wir haben uns Gänseblümchen ins Haar gesteckt, wir haben getan, was alle Verliebten überall tun. Nur dass Krieg war, nur dass alle anderen zur gleichen Zeit versucht haben, sich gegenseitig umzubringen wegen etwas, das passiert ist, lange bevor irgendeiner von uns überhaupt geboren war É Was hatte das alles mit uns zu tun? Wir wollten niemanden umbringen. Wir haben gedacht, dass sie uns schon irgendwann in Ruhe lassen. Wir haben gedacht, dass wir anders sind, nur weil wir uns geliebt haben. Wir haben davon geträumt, einfach abzuhauen und woanders wieder von vorn anzufangen.« Wieder bog sie mit der rechten Hand nacheinander die Finger der Linken um.

W
ie kann ein Mensch É wie kann der Mensch, den man liebt, einfach so verschwinden, Charles? Wie kann ein Mensch abends aus dem Haus gehen, weil er etwas zu essen besorgen will, und einfach so nie wieder zurückkommen? Das ist lächerlich. Sinnlos. Aber über den Sinn von irgendwas hat schon lange keiner mehr nachgedacht. Und dann mussten wir wieder fliehen. Und als ich zurück bin, um ihn zu suchen, habe ich das von den Minen gehört, dass sie Minen in unserer Straße vergraben haben, für den Fall, dass einer zurückkommt. Wo ist er jetzt? In einem Grab irgendwo in der Krajina? Im selben Grab wie mein Vater? Keiner weiß was. Wie ist das möglich? Ich versteh das nicht. Das ist alles, was von unserer Liebe übrig ist, was meine Liebe für ihn tun konnte.« Ihr Kinn bebte. Aus dem Mausoleumsdunkel in der Ecke schaute mich der Kopf des Schaukelpferds traurig an.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.06.2006