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Wie wirklich ist
die Wirklichkeit?

Oper »Pelléas et Mélisande«

Bielefeld (uj). Sie gilt als kostbares Kleinod, als ein Stück, das in seiner Wirkungsintensität mit Bergs »Lulu« und »Wozzeck« auf einer Stufe steht. Und doch findet sich Claude Debussys Oper »Pelléas et Mélisande« vergleichsweise selten auf den Spielplänen wieder. Mit dem lyrischen Drama, das in mehrfacher Hinsicht ein Ausnahmewerk ist, verabschiedet sich jetzt das Musiktheater aus der Oetkerhalle.

Die letzte Inszenierung in der Übergangsspielstätte verspricht zugleich jene zu werden, die die architektonischen und technischen Begebenheiten der Oetkerhalle am radikalsten aufgreift. Regisseur Bruno Klimek, der zugleich für die Bühnenausstattung verantwortlich zeichnet, setzt auf eine nie dagewesenen Unverfälschtheit. Seine minimalen Eingriffe beschränken sich darauf, die den Raum durchziehenden Stahltraversen leicht zu versetzen. Einen fixierbaren Mittelpunkt, geschweige denn Achsensymetrie gibt es bei ihm nicht. Zusätzlich wird das Bild von 300 vertikal von der Decke hängenden Schnüren verzerrt. Zwischen ihnen hangeln sich die Personen wie an Fallstricken durch den Fünfakter. Mehr als 100 prall gefüllte und über die Bühne verteilte Müllsäcke bilden weitere Hindernisse. »Ich hatte bei den Vorbereitungen zu dem Stück immer einen vermüllten Auwald vor Augen«, sagt Klimek, der erstmals am Bielefelder Theater Regie führt.
Kein handfestes Dekor aus Schloss, Brunnen, Grotte, Wald und Wasser, sondern ein brüchiger, verzerrter Raum bildet den Rahmen für eine psychologisch abgründige Parabel, in der hinter jeder scheinbar einedeutigen Situation eine andere Wirklichkeit lauert. Dabei ist die Story vertraut: Älterer Mann (Golaud: Michael Bachtadze) heiratet sehr junge Frau (Mélisande: Melanie Kreuter) und führt sie auf das Schloss seines Großvaters, wo sie ein Liebesverhältnis mit dem jüngeren Bruder ihres Mannes (Pelléas: Luca Martin) beginnt. Der Ehemann tötet seinen Bruder, die Frau stirbt, nachdem sie ein Kind geboren hat.
Eindeutigkeit verweigert Debussy jedoch in seiner einzigen Oper, die auch musikalisch einmalig ist. »Er macht eine Innenwelt auf bei der es dem Zuschauer nicht leicht gemacht wird, sich für oder gegen eine Person zu entscheiden. Keiner ist explizit gut oder schlecht«, sagt Klimek. Darin liege der Reiz der Oper, dass sie permanent hinterfrage, was Wahrheit und Wirklichkeit sei.
Auch auf der musikalischen Ebene herrschen Mehrdeutigkeit und klangliche Raffinesse durch Reduktion. »Die Musik lässt Opernästhektik nur kurz aufblitzen«, sagt GMD Peter Kuhn. Sie kenne kaum zielgerichtete Entwicklungen und dramatische Ausbrüche, lote aber durch ein subtiles Spiel mit melodischem Tonfall, Klangfarben, Dynamik und Tempo die Psyche der Protagonisten und die beschädigte Welt auf Schloss Allemonde genau aus. Susan Sontag nannte sie die »traurigste Oper, die je komponiert wurde«.
Parallel zur Oper zeigt das Theater Bielefeld im unteren Foyer der Oetkerhalle ein Folge von 77 Bildern, die Bruno Klimek anlässlich seiner Inszenierung der Oper geschaffen hat.
Die Premiere ist am Sonntag, 21. Mai, 18 Uhr. Karten gibt es telefonisch unter 51-54 54.

Artikel vom 18.05.2006