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Die Muttersprache ist das Stiefkind

Teils nur drei Stunden Deutschunterricht pro Woche - Lehrer alarmiert

Von Rolf Dressler
Bielefeld (WB). Die Sprache ist der Zentralschlüssel, der uns Menschen das Leben und die Welt erschließt. Dennoch aber wird in kaum einem Land ausgerechnet auch in der frühen Schulzeit weniger Unterricht in der eigenen Muttersprache erteilt als in Deutschland. Das Fach Deutsch steht hierzulande mit höchstens 16 Prozent aller Schulstunden zu Buche.

Zum Vergleich: In Frankreich und China beträgt der Anteil des muttersprachlichen Unterrichts 26 Prozent, in Dänemark 25, in Norwegen 24, in Schweden 23 und in Polen 22 Prozent.
In den Jahrgangsstufen 1 bis 10, teils sogar in bundesdeutschen Gymnasien, steht Deutsch indessen oftmals nur dreimal pro Woche auf dem Stundenplan. »Das ist schlicht entschieden zu wenig«, sagte Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL), im Gespräch mit dieser Zeitung.
Aus guten Gründen legten andere Kulturnationen sichtlich größeren Wert auf die Pflege ihrer Landessprache. Hier in Deutschland müsse daher dem zunehmend nachlässigen Sprachgebrauch endlich Einhalt geboten werden. Josef Kraus benennt dazu einen Thesen-Katalog:
- Das Beherrschen der eigenen Mutter- bzw. Landessprache sei »die zentrale Schlüsselqualifikation«. Folglich müsse das Fach Deutsch auch nach der Zahl der Unterrichtsstunden wieder ganz obenan stehen.
- Nur wer die eigene Sprache sicher spreche und schreibe, entwickele schon in jungen Jahren schöpferische Kräfte, ein Gespür für künstlerische Themen und Leistungen und bilde bei sich selbst die Fähigkeit aus, Meinungen und Argumente mit anderen zu diskutieren.
- Das forme und festige schon beizeiten in positiver Weise den eigenen Charakter.
Nach den Erfahrungen des Pädagogik-Praktikers Josef Kraus »nutzt ein solider, umfassender Deutschunterricht nachhaltig auch allen anderen Schulfächern«. Er trage wesentlich zur Medienerziehung bei. Denn gerade auch in Zeiten immer neuer Informationstechniken mit ihrer gewaltigen Bilderflut bleibe das Lesen die wichtigste Kulturtechnik überhaupt.
Deshalb müsse die Schule die sprachliche und literarische Bildung wieder besonders pflegen. Dazu gehöre der richtige Ge- brauch von Rechtschreibung, Grammatik und Satzbau ebenso wie das Vermitteln eines möglichst großen deutschen Wortschatzes.
Und nicht zuletzt lege das Be- herrschen der Mutter- und Landessprache das Fundament für das erfolgreiche Erlernen von Fremdsprachen. Eine lebendige und weltoffene Sprachschulung, das betont der Präsident des Lehrerorganisation nachdrücklich, müsse der leider grassierenden Verflachung entgegenwirken. Und sie sollte Kauderwelsch-Anglizismen Einhalt gebieten. Denn das sogenannte Pidgin-Englisch belaste auch schon die Kultursprache Englisch selbst.
Der von Josef Kraus geführte Deutsche Lehrerverband vertritt mehr als 160 000 Pädagogen. Er ist damit Deutschlands größte Lehrerorganisation außerhalb der DGB-Gewerkschaften. Leitartikel

Artikel vom 17.05.2006