30.05.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Gut. Ich klopfte mit der Kappe des Stifts gegen meine Zähne und sah mich in meinem Salon, bekränzt mit Girlanden, umgeben von unschuldigen jungen Mädchen, die ungeduldig an meinen Lippen hingen, um vom Autor des Charles zu lernen. Mir fiel auf, dass das Blatt sehr weiß war. Lag das an der speziellen Sorte, oder war Papier immer so weiß? Jemand anderen hätte das aus der Ruhe gebracht. Jetzt! Jetzt! Ans Werk! Sofort!, drängte das Universum. Wieder senkte ich die Spitze des Stifts und schrieb vor Charles das Wort von. Dann, hinter Charles, schrieb ich Hythloday. Danach hielt ich eine Pause für angebracht, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltete kurz den Fernseher ein. Dann, die Uhr schlug drei, packte mich die Inspiration. In einem einzigen wilden Anfall schrieb ich fünf vollkommen neue Worte neben die drei, die ich schon geschrieben hatte - den Titel, meinen Titel. Es war ein großartiger Titel, ein bedeutungsschwerer Titel, der all die Freuden und Kümmernisse, all das Rätselhafte und Gewöhnliche eines Lebens in sich trug. Mit der Fingerspitze wischte ich mir eine Träne aus dem Auge.

M
it so einem Titel war der Großteil der Arbeit schon getan. Aber ich ließ nicht nach. In meinem Geist brodelte es vor Möglichkeiten, vor geistreichen Charakteren und weisen Einsichten in die menschliche Befindlichkeit. Sie konnten alle drin vorkommen: Laura als eine Art ironischer griechischer Chor, Frank als ein im Wesentlichen unkontrolliert herumlaufendes Es, dann noch Mutter (der Wankelmut der Frau), Mirela (die Sehnsucht und gleichzeitige Unmöglichkeit, diese zu stillen), Bel in der Hauptrolle der großen, tragisch scheiternden Figur, Symbol einer vom Weg abgekommenen Gesellschaft É Ich stopfte meine Pfeife, nahm ein frisches Blatt und schrieb in Großbuchstaben oben auf die Seite:

HANDLUNG

Zwölf
Anfangs hatte ich vor, das Stück fertig zu stellen und Bel noch vor der Premiere von Harrys neuem Stück zu überreichen, in der Hoffnung, dass sie dann seins zerreißen und stattdessen meins nehmen würden. Allerdings dauert das Schreiben eines Stückes länger, als man meinen möchte - wenn man es richtig machen will, meine ich. Und kaum, dass ich mich versah, stand auch schon der Premierenabend von Die Rampe vor der Tür.
Da es ihnen immer noch an Aushilfen mangelte, erklärte ich mich bereit, meiner Verbannung vorübergehend zu entsagen, um für den Abend das Garderobenfräulein zu machen. Mit einiger Mühe hatte ich es geschafft, Frank als moralischen Beistand zu gewinnen. Mutter stellte uns in der Halle einen kleinen Tisch hin, wo wir den hohen Besuch begrüßten und dessen Mäntel in Empfang nahmen. Draußen war die Nacht prickelnd kalt, doch hier drinnen geleiteten Kerzen, Gestecke von wilden Herbstblumen und frische Düfte die Gäste durch die Halle bis ins Musikzimmer, wo sie mit rotem Bordeaux und Glühwein empfangen wurden und mit Musik, die dargeboten wurde von Vuk, Zoran und einigen ihrer Freunde aus der Warteschlange vom Ausländeramt.

W
elchen Zauber sie auch immer angewandt haben mochte - anscheinend hatte niemand der Einladung Mirelas widerstehen können. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn platzte das Haus vor hochkarätigen Wirtschaftsbossen aus allen Nähten. Während sie an uns vorbeigingen, identifizierte Laura für mich und Frank jeden Einzelnen von ihnen. (Laura hatte sich ebenfalls freiwillig gemeldet, obwohl ich ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, dass das nicht nötig sei. Seit jenem Titanic-Abend war sie praktisch jeden Abend in unserer Wohnung gewesen - vorgeblich, um Frank beim Aufbauen von Bücherregalen zu helfen. Angesichts des permanenten Gekichers, das aus seinem Zimmer drang, war sie aber wohl keine allzu große Hilfe.)
»Das ist der französische Kulturattaché.« Sie trug ein luftiges Taftkleid und hielt eine Platte Vol-au-Vents in der Hand. »Das ist Roly Guilfoyle, der Meisterkoch. Und das da ist einer von diesem Bohnenkonzern, oh, entschuldigt mich kurz É« Eine weitere hoch gestellte Dame erschien, um ihren Mantel abzugeben. An die ungläubige Blickfolge hatten wir uns schon gewöhnt: erst ein entsetzter Blick für mein mumifiziertes Gesicht, dann einer für Franks nicht mumifizierte Trauervisage. »Danke, Madam, Nummer 105, bitte. Gerade durch, rechts É«
»O mein Gott, da hinten ist der Chef von Stone Wall Friends and Mutuals. Das ist praktisch der Versicherungsmensch von Irland überhaupt. Letzten Monat hab ich ihn im Fernsehen gesehen, in VIP, das Badezimmer von dem ist so in etruskischem StilÉ«
»Na, dann geh doch rüber und biet ihm ein Vol-au-Vent an. Wir machen das hier schon É Ja, Sir, Nummer 106, danke. Ja, Sir, absolut sicher. Ja, Sir, ich bin mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass die nicht auf Bäumen wachsen. Einen wunderschönen Abend, Sir É Verdammt, Frank, jetzt schau nicht so düster. Du machst den Leuten Angst É«
»Ich schau nicht düster, Charlie. Ich schau immer so.«
»He, Jungs.« Laura kam herübergetippelt und flüsterte uns verstohlen aus dem Mundwinkel zu: »Ihr glaubt nicht, wer da ist É Niall OÕBoyle!« Sie deutete auf einen unscheinbaren Mann, der einen blauen Anzug trug; das Gesicht sah aus, als hätte sich während einer entscheidenden Wachtumsphase einer draufgesetzt.
»Wer?«

N
iall OÕBoyle. Das ist der Vorstandsvorsitzende von Telsinor Ireland. Wisst ihr nicht mehr? Letztes Jahr, er hat die Telefongesellschaft an die Börse gebracht und dann mit den Dänen diesen Management-Buy-out durchgezogen. Ihm gehört noch ein Radiosender und dieses eine Magazin da, der muss Millionen haben. O mein Gott, da, die Uhr, schaut euch bloß die Uhr an, in meinem ganzen Leben hab ich nicht so eine große Uhr gesehenÉ«
»Laura É« Ich klopfte nachdrücklich mit dem Tacker auf die Tischplatte. »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber Frank und ich haben hier die Verantwortung für ein paar ziemlich wertvolle Mäntel. Da gehtÕs einfach nicht, dass wir abgelenkt werden.«
»Schon gut, schon gut.« Sie rümpfte die Nase und mischte sich wieder unter die Leute.
»Laufen ein paar ziemlich wichtige Burschen hier rum, oder, Charlie?«
»Ein Illuminati-Cocktail, könnte man sagen.« Ich fragte mich, was Bel von all dem hielt.

E
twas früher waren verschiedene Mitglieder der Rampen-Besetzung in Aktion getreten und hatten die Gäste bearbeitet: Jedem, der es hören wollte, hatten sie Zweck und Bedeutung des Theaters erläutert. Auch Bel war da gewesen. Sie hatte ein champagnerfarbenes Kleid zur Schau getragen und einen Gesichtsausdruck von derart unverblümter Feindseligkeit, dass nur etwas betagtere Gäste und solche mit einem Hang zu Kamikazeunternehmungen es gewagt hatten, sie anzusprechen. Bis jetzt hatte ich es einrichten können, ihr aus dem Weg zu gehen. Allerdings war mir klar, dass ich nach dem Theater vom letzten Mal gut beraten war, mit irgendeiner Art von Beistandsbezeugung aufzuwarten. Und so begab ich mich beim ersten Klingelzeichen für die Zuschauer zu einem schnellen Abstecher in die Schauspielergarderobe, um ihr meine Aufwartung zu machen. Ein frostiger Empfang würde auf diese Weise wenigstens durch die Möglichkeit ausgeglichen, Mirela au naturel zu sehen. Ich verließ Frank mit strikten Anweisungen, nichts zu zerstören und niemanden zu attackieren, und ging um die Spülküche herum zur Hintertreppe, die nach oben zur Garderobe führte.

D
ie Atmosphäre in der Garderobe war angespannt; die Luft war so heiß und talkumvernebelt, dass man kaum atmen konnte. Vor einem langen Spiegel mit einer Holzplatte saßen auf Klappstühlen die Schauspieler; über dem Spiegel leuchteten grell nackte Glühbirnen. Bel saß ganz hinten. Sie drückte eine volle Tasse schwarzen Kaffee gegen ihr schäbiges Kostüm, hinter ihr stand Harry und massierte ihr die Schultern. Ich versuchte mich zu ihr durchzuschlängeln, doch es war, als schwämme ich gegen eine Flutwelle an. Nachdem sie mich einige Male zurückgeschlagen hatte, zog ich mich auf ein relativ ruhiges Plätzchen neben der Tür zurück und wartete darauf, dass sich die Chance von selbst ergab. In der Zwischenzeit starrte ich sehnsüchtig Mirela an (quel malheur!, schon angezogen), die ganz in der Nähe saß und nicht von einem, sondern gleich von drei Mädchen belagert wurde, die sie schminkten und ihr schwarz glänzendes Haar ausbürsteten.
Von irgendwo aus dem Getümmel hörte ich Mutters flötende Stimme: »Und, was hat er gesagt?«
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir hinterher darüber reden«, sagte Harry affektiert grinsend.
»Papperlapapp.« Mutter blieb hart.

N
un ja, er ist interessiert«, ließ Harry sich entlocken. Als die anderen das hörten und plötzlich überall aufgeregte Stimmen zu hören waren, wurde Harrys Grinsen breiter. »Anscheinend hat seine Frau Feuer frei! gesehen, und wenn ihm gefällt, was er heute Abend sieht, dann É«
»Was dann?« Das Mädchen mit den Haarspangen schlug ihm mit dem Skript auf die Schulter.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.05.2006