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Sie schaute ihn mit dem gleichen sezierenden Blick an, dessen Opfer gelegentlich auch ich schon gewesen war. »Golem«, sagte sie. Dann drehte sie sich um, ging würdevoll von der Bühne in die Kulissen und rauschte an uns vorbei, als wären wir Luft.
Im Publikum verlegenes Rumoren. Mirela sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Kurz schien das Haus, die Welt, aus den Fugen geraten und zur Seite wegzukippen. Dann fing sich Harry wieder. Mit einer Geistesgegenwart, die man nur bewundern konnte, ging er zu Mirela, zog sie von ihrem Stuhl hoch und sagte: »Verstehst du denn nicht, was geschehen ist? Wir haben sie gerettet! Liebling, wir haben sie gerettet!« Dann nahm er sie in die Arme und küsste sie.
»Den Vorhang«, keuchte Mutter mir ins Ohr. »Um Gottes willen, den Vorhang.«
Ich hastete zur Schalttafel, vor der wie gelähmt der pummelige Inspizient stand, und legte aufs Geratewohl einen Hebel um. Der Vorhang fiel; es herrschte absolute Stille.
»Wir sind erledigt«, stöhnte Mutter. Schauspieler und Bühnenarbeiter standen niedergeschlagen herum und schauten sich verwirrt an. Einer der Schauspieler schlug ernsthaft vor, dass wir uns aus dem Staub machen und irgendwo ein neues Leben beginnen sollten. Seine Kollegen unterstützten den Vorschlag, doch bevor ich noch meiner Empfehlung für Chile als ein Land mit vielen Vorzügen Ausdruck verleihen konnte, erhob sich jenseits des Vorhangs ein großes Getöse. Der Lärm war gewaltig und chaotisch, er hörte sich an wie eine Lawine oder wie ein Wald, dessen Bäume in ein und derselben Sekunde umgeholzt wurden. Und dann hörten wir die Jubelschreie und Bravos, der Vorhang wurde wieder nach oben gezogen, und wir ließen die standing ovations über uns ergehen.

E
in Triumph, so die Kritiken am nächsten Tag. Harry Littles liebenswertes Melodram habe das Publikum in falscher Sicherheit gewiegt und dann, wie aus dem Nichts, zum entscheidenden Schlag ausgeholt: Die aufkeimende Liebe zwischen ihrer Schwester (eine Mirela Pribicevic von großer Strahlkraft) und dem schneidigen jungen Anwalt (Little) verhilft der an den Rollstuhl gefesselten Mary (einfühlsam dargestellt von Bel Hythloday) dazu, buchstäblich auf eigenen Füßen erste unsichere Schritte in eine selbstverantwortliche, aber erlösende Freiheit zu tun. Was zunächst anmutet wie ein flaches, wenn auch gut gemeintes Werk, das von den Schwierigkeiten eines in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkten Menschen handelt, in ein Gebäude hinein und wieder hinaus zu gelangen, entpuppt sich in fast schon Lacanscher Rasanz der Auflösung - der zweite Teil des Stücks dauert nur siebzehn Minuten - als ein schockierender, explosiver Kommentar zum Wesen der Freiheit, zur erlösenden und dennoch kathartischen Kraft der Liebe, zur Funktion des Theaters in der modernen Welt und É etc., etc.
»Was für eine Ironie«, sagte ich. »Sieht ganz so aus, als hätte dein bisschen épater les bourgeois tatsächlich das ganze Unternehmen gerettet.«

I
st mir auch schon aufgefallen«, sagte sie gelangweilt. Der Ex-Joyrider, jetzt Arzt, federte mit einem Drink mit Schirmchen im Congaschritt an uns vorbei. Um uns herum tobte die Party. Zwischen ihren Knien hindurch beobachtete Bel das Treiben. Mit jeder Sekunde machte sie einen abwesenderen Eindruck - wie ein Aschenputtel, dessen Zeit abgelaufen ist, und das nun nicht nur mit ansehen muss, wie sich die Kutsche wieder in den Kürbis zurückverwandelt, sondern auch, wie sich aus des Königssohns Koffer ein ganzer Berg gläserner Pantoffeln über den Boden ergießt. Ich beugte mich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und massierte meinen bandagierten Schädel. »Herrgott, Bel, was hast du dir bloß gedacht?«
»Ich war wütend«, sagte sie.
»Ich weiß, dass du wütend warst. Das meine ich nicht, ich meine die Fotos, MacGillycuddy. Was hat dich da bloß geritten?«
»Weiß nicht«, sagte sie elend. »Er hat mir seine Goldsiegel-Erfolgsgarantie gegeben.«
»MacGillycuddys Goldsiegel-Erfolgsgarantie ist das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt ist«, schnaubte ich. »Du weißt doch genau, dass alles, was der Kerl anpackt, im Chaos endet. Wie konntest du bloß so É Ich meine, ich verstehÕs einfach nicht.«
»Ich wollte einfach, dass es klappt«, murmelte sie durch den Spalt zwischen ihren Knien hindurch. »Ist doch normal, wenn man jemanden mag, oder? Man findet raus, was der andere mag, und tut so, als ob man es auch mag. Man lacht über seine WitzeÉ«
»Aber kapierst du denn nicht?« Verzweifelt zupfte ich mich am Ohr. »Kapierst du nicht, dass da ein Unterschied ist, ob ich über die Witze von jemandem lache oder ob ich ihn von MacGillycuddy ausspionieren lasse? Ich meine, das passt gar nicht zu dirÉ«
»Ich konnte einfach nicht anders«, sagte sie. »Ich musste etwas tun. Du hast ja keine Ahnung, wie das hier war die ganze Zeit. Dauernd hat sie mich an den Rand gedrängt, hat versucht, alles zu kontrollieren. Bei den Proben hat sie sich praktisch entblättert vor ihm, obwohl sie ihn eigentlich gar nicht wollte; sie hatÕs bloß getan, weil sie wusste, dass sie ihn haben kann É« Bekümmert runzelte sie die Stirn. »Die Kussszene haben sie wahrscheinlich hundertmal geprobt.«
»Das ist doch kein Grund, eine komplette Liebesgeschichte zu inszenieren. Ich meine, was hast du denn erwartet, wie das ausgeht? Das konnte doch gar nicht gut gehen É«
»Es hat doch funktioniert, oder etwa nicht?«, sagte sie leise.
»Das ist ja wohl eine ziemlich akademische Sichtweise«, sagte ich.
»Es hat funktioniert«, sagte sie störrisch, als spräche sie mit sich selbst. »An dem Abend damals auf dem Dach, da war alles perfekt.«
»Wenn alles so perfekt war«, sagte ich säuerlich, »warum hast du ihm dann MacGillycuddy auf den Hals gehetzt?«

B
el senkte den Kopf und fummelte wie ein Kind an dem ärgerlichen Anhänger herum, den sie sich wieder umgehängt hatte. Ich hatte nicht grob werden wollen, ich fühlte mich nur selbst etwas missbraucht. Seufzend fragte ich sie: »Und was willst du jetzt machen?«
»Ich werde mir noch einen Drink genehmigen«, sagte sie und hielt mir das Glas hin.
»Na gut.« Ich nahm das Glas und gab ihr einen Klaps aufs Knie. »Geh nicht weg«, sagte ich. Angesichts ihres Zustands war das allerdings kaum zu befürchten.
»Sie hat einen Schock«, sagte Mrs P und stellte einen Samowar neben die Gläser auf ein Silbertablett. »Das ist besser als immer doppelte Brandys.«
»Versuchen Sie mal, ihr das zu erklären.«
Mrs P schaute mir in die Augen. »Was ist passiert, Master Charles?«
»Och, eigentlich nichts«, sagte ich großspurig. »Wie Mädchen halt so sind, wenn sie ein bisschen Dampf ablassen. Sie wissen doch, wie das ist.«
»Mmm«, sagte Mrs P vage und bekräftigte ihren Kommentar mit einem leichten Stirnrunzeln und Achselzucken.
»Sie sollten zufrieden sein, Mrs P, Mirela hat ganz schön was durchgemacht.«
Mrs P schaute mit gerunzelter Stirn zu ihrer Tochter und Harry, die in ein Gespräch mit dem Telefonmenschen vertieft waren. »Ich bin zufrieden, wenn das alles vorbei ist«, sagte sie. »Ich bin alt, ich habe gesehen genug Streit. Entschuldigung, Master Charles, ich muss jetzt bringen diesem Mann da seinen Drink.«

D
ie Party tobte weiter. Die schon angeheiterte Laura nervte Mrs Ps Söhne mit ihren Musikwünschen. Frank, der für die Dauer meiner Unterhaltung mit Bel freundlicherweise die Garderobe allein betreute, kam alle paar Minuten herein und verfrachtete ganze Abschnitte des Buffets an seinen Arbeitsplatz. Schauspieler und Bühnenarbeiter strotzten inzwischen vor Selbstbewusstsein. Nachdem er die Meinung eines Journalisten eingeholt hatte, verkündete der Telefonmensch, er sei höchst angetan von dem Stück. Die Gerüchte überschlugen sich: Er würde Harry mit einem neuen Stück beauftragen und dafür ein gewaltiges Budget bereitstellen; Mirela würde für eine Telsinor-Plakatwand modeln; alle bekämen ein Gratishandy, im Gegenzug dürfe er im Garten von Amaurot einen Sendemast aufstellen.

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lle taten so, als sei der sabotierte Schluss von Anfang an so geplant gewesen. Was die Fotos anging: Als wir nach dem letzten Vorhang in die Garderobe gingen, waren sie verschwunden; niemand verlor jetzt noch ein Wort darüber, und es fand auch niemand komisch, dass Mirela und nicht Bel an Harrys Seite durch den Raum flanierte. Auch da hatte es den Anschein, als habe man den Text einfach umgeschrieben, und lediglich die Anwesenheit der verzagten Bel, um die alle einen große Bogen machten, deutete noch darauf hin, dass es mal eine ältere Textfassung gegeben hatte.

A
uf dem Rückweg zu Bel blieb ich kurz stehen, um Niall OÕBoyle und Harry zu lauschen, die von einem Journalisten gelöchert wurden. »Und was springt für Telsinor bei einem derartigen Investment heraus?«, fragte der Journalist gerade.
»Es geht nicht darum, dass dabei für uns etwas herausspringt«, sagte Niall OÕBoyle. »Wir reden hier von É wie nannten Sie das doch gleich?«
»Synergie,« sagte Harry, der noch sein muffiges Kostüm aus dem Stück trug.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.06.2006