03.06.2006
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Im Publikum verlegenes Rumoren. Mirela sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Kurz schien das Haus, die Welt, aus den Fugen geraten und zur Seite wegzukippen. Dann fing sich Harry wieder. Mit einer Geistesgegenwart, die man nur bewundern konnte, ging er zu Mirela, zog sie von ihrem Stuhl hoch und sagte: »Verstehst du denn nicht, was geschehen ist? Wir haben sie gerettet! Liebling, wir haben sie gerettet!« Dann nahm er sie in die Arme und küsste sie.
»Den Vorhang«, keuchte Mutter mir ins Ohr. »Um Gottes willen, den Vorhang.«
Ich hastete zur Schalttafel, vor der wie gelähmt der pummelige Inspizient stand, und legte aufs Geratewohl einen Hebel um. Der Vorhang fiel; es herrschte absolute Stille.
»Wir sind erledigt«, stöhnte Mutter. Schauspieler und Bühnenarbeiter standen niedergeschlagen herum und schauten sich verwirrt an. Einer der Schauspieler schlug ernsthaft vor, dass wir uns aus dem Staub machen und irgendwo ein neues Leben beginnen sollten. Seine Kollegen unterstützten den Vorschlag, doch bevor ich noch meiner Empfehlung für Chile als ein Land mit vielen Vorzügen Ausdruck verleihen konnte, erhob sich jenseits des Vorhangs ein großes Getöse. Der Lärm war gewaltig und chaotisch, er hörte sich an wie eine Lawine oder wie ein Wald, dessen Bäume in ein und derselben Sekunde umgeholzt wurden. Und dann hörten wir die Jubelschreie und Bravos, der Vorhang wurde wieder nach oben gezogen, und wir ließen die standing ovations über uns ergehen.
E
»Was für eine Ironie«, sagte ich. »Sieht ganz so aus, als hätte dein bisschen épater les bourgeois tatsächlich das ganze Unternehmen gerettet.«
I
»Ich war wütend«, sagte sie.
»Ich weiß, dass du wütend warst. Das meine ich nicht, ich meine die Fotos, MacGillycuddy. Was hat dich da bloß geritten?«
»Weiß nicht«, sagte sie elend. »Er hat mir seine Goldsiegel-Erfolgsgarantie gegeben.«
»MacGillycuddys Goldsiegel-Erfolgsgarantie ist das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt ist«, schnaubte ich. »Du weißt doch genau, dass alles, was der Kerl anpackt, im Chaos endet. Wie konntest du bloß so É Ich meine, ich verstehÕs einfach nicht.«
»Ich wollte einfach, dass es klappt«, murmelte sie durch den Spalt zwischen ihren Knien hindurch. »Ist doch normal, wenn man jemanden mag, oder? Man findet raus, was der andere mag, und tut so, als ob man es auch mag. Man lacht über seine WitzeÉ«
»Aber kapierst du denn nicht?« Verzweifelt zupfte ich mich am Ohr. »Kapierst du nicht, dass da ein Unterschied ist, ob ich über die Witze von jemandem lache oder ob ich ihn von MacGillycuddy ausspionieren lasse? Ich meine, das passt gar nicht zu dirÉ«
»Ich konnte einfach nicht anders«, sagte sie. »Ich musste etwas tun. Du hast ja keine Ahnung, wie das hier war die ganze Zeit. Dauernd hat sie mich an den Rand gedrängt, hat versucht, alles zu kontrollieren. Bei den Proben hat sie sich praktisch entblättert vor ihm, obwohl sie ihn eigentlich gar nicht wollte; sie hatÕs bloß getan, weil sie wusste, dass sie ihn haben kann É« Bekümmert runzelte sie die Stirn. »Die Kussszene haben sie wahrscheinlich hundertmal geprobt.«
»Das ist doch kein Grund, eine komplette Liebesgeschichte zu inszenieren. Ich meine, was hast du denn erwartet, wie das ausgeht? Das konnte doch gar nicht gut gehen É«
»Es hat doch funktioniert, oder etwa nicht?«, sagte sie leise.
»Das ist ja wohl eine ziemlich akademische Sichtweise«, sagte ich.
»Es hat funktioniert«, sagte sie störrisch, als spräche sie mit sich selbst. »An dem Abend damals auf dem Dach, da war alles perfekt.«
»Wenn alles so perfekt war«, sagte ich säuerlich, »warum hast du ihm dann MacGillycuddy auf den Hals gehetzt?«
B
»Ich werde mir noch einen Drink genehmigen«, sagte sie und hielt mir das Glas hin.
»Na gut.« Ich nahm das Glas und gab ihr einen Klaps aufs Knie. »Geh nicht weg«, sagte ich. Angesichts ihres Zustands war das allerdings kaum zu befürchten.
»Sie hat einen Schock«, sagte Mrs P und stellte einen Samowar neben die Gläser auf ein Silbertablett. »Das ist besser als immer doppelte Brandys.«
»Versuchen Sie mal, ihr das zu erklären.«
Mrs P schaute mir in die Augen. »Was ist passiert, Master Charles?«
»Och, eigentlich nichts«, sagte ich großspurig. »Wie Mädchen halt so sind, wenn sie ein bisschen Dampf ablassen. Sie wissen doch, wie das ist.«
»Mmm«, sagte Mrs P vage und bekräftigte ihren Kommentar mit einem leichten Stirnrunzeln und Achselzucken.
»Sie sollten zufrieden sein, Mrs P, Mirela hat ganz schön was durchgemacht.«
Mrs P schaute mit gerunzelter Stirn zu ihrer Tochter und Harry, die in ein Gespräch mit dem Telefonmenschen vertieft waren. »Ich bin zufrieden, wenn das alles vorbei ist«, sagte sie. »Ich bin alt, ich habe gesehen genug Streit. Entschuldigung, Master Charles, ich muss jetzt bringen diesem Mann da seinen Drink.«
D
A
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»Es geht nicht darum, dass dabei für uns etwas herausspringt«, sagte Niall OÕBoyle. »Wir reden hier von É wie nannten Sie das doch gleich?«
»Synergie,« sagte Harry, der noch sein muffiges Kostüm aus dem Stück trug.
Artikel vom 03.06.2006